Nachruf auf vera mayer: da kann mir auch niemand ins wort fallen

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Sie hat selbst ihre Trauerrede geschrieben. Hier ist sie Von Vera Mayer V_era Mayer hat ihre Trauerfeier selbst geplant, sie hat die Musik ausgesucht und die Rede geschrieben, die ihre


Enkelkinder vorlasen:_ Es ist Euch hoffentlich nicht befremdlich, dass ich zum letzten Mal – versprochen! – das Wort ergreife. Ich dachte, da kann mir auch niemand ins Wort fallen. Hört


meine nicht aufregende, mittelmäßige und oft über die Maßen anstrengende Lebensgeschichte, die viele Glücksmomente hatte. Unehelich geboren wurde ich im Kriegsjahr 1941 in der Neuköllner


Frauenklinik Mariendorf. Meine Mutter musste im Schwesternheim gegenüber zur Strafe arbeiten und nach vier Wochen ihren Dienst als Funkerin wieder antreten. Mich gab man zu Pflegeeltern, die


ein an Rachitis leidendes Baby nicht behalten wollten. So kam ich zur Großmutter Klara nach Wittenberge an der Elbe. Da war schon mein Bruder Werner und immer wieder Kinder der zehn


Geschwister meiner Oma. Wie hat diese Frau es geschafft? Ohne Mann, wenig Geld, ein krankes, Kind, und der Krieg wurde immer brutaler. Am Ende kamen die Russen, Oma ging hamstern, der


Hausstand wurde zum Tauschen zu den Bauern gebracht. 1947, zur Einschulung, kam ich zur Mutter nach Berlin-Neukölln. Die bunte Tüte war voll Zeitungspapier. EIN ZEUGE JEHOVAS, DER UNS


UNBEDINGT, JEDOCH ERFOLGLOS, MISSIONIEREN WOLLTE Meine Mutter hatte 1945 geheiratet, einen sehr liebevollen Hans PIötz. Ich erlebte mit meinem Bruder die Zeit der Berlin-Blockade und die


amerikanische Luftbrücke, wo wir leider nie ein Schirmchen mit Süßigkeiten ergattert haben. Berlin bekam mir nicht und ich bekam die Gelbsucht. Meine Mutter bekam ihr drittes Kind, und ich


kam wieder zur geliebten Oma nach Wittenberge. Dort kam 1948 der Opa Max aus der russischen Kriegsgefangenschaft. Er war inzwischen ein Zeuge Jehovas, der uns unbedingt, jedoch erfolglos,


missionieren wollte. Empfohlener redaktioneller Inhalt An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen


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Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können. Eines Tages war er weg, geflohen nach West-Berlin zu meiner Mutter,


denn Zeugen Jehovas wurden in der DDR verfolgt. Die Stasi holte uns nachts aus dem Bett und wollte seinen Aufenthaltsort wissen. So sind Oma und ich mit einem Koffer nach West-Berlin


gefahren und waren auch politische Flüchtlinge. Opa, Oma und ich wohnten in einem kleinen Zimmer bei meiner Mutter, bis wir anderswo ein größeres bekamen. Dann ließ Opa sich von Oma für eine


Zeugenfrau scheiden und wir beide lebten nun von 30 DM im Monat. Ich kam zu den Pfadfindern und verbrachte alle Ferien auf Fahrten per Anhalter in unsere Nachbarstaaten. Wir schliefen in


Zelten, lernten, Feuer zu machen, und wurden sehr selbstständig. Nach meinem neunten Schuljahr fing ich mit 14 eine Buchhändlerlehre bei Karstadt an. Die 50er Jahre waren aufregend. Zu Bill


Haley, Elvis und Jonny Cash tanzten wir in Petticoat-Kleidern. Im Columbia-Bad fand ich meine große Liebe Richard, Amateurboxer, Schwarm aller Mädchen. Mit 20 war dann Anna unterwegs. Ich


war noch nicht volljährig, und – „was sollen die Leute sagen“ – ich musste heiraten. Und war mit 22 wieder geschieden. IM ERSTEN VW-KÄFER Ich fand eine Einzimmerwohnung ohne Bad im


Hinterhaus. Eine neue Arbeit ermöglichte uns beiden Italien- und Mallorca-Urlaube. Ein neues Kapitel begann: Der nette Kollege und Fernsehtechniker Jürgen Mayer fuhr uns mit meinem ersten


VW Käfer nach Italien und anschließend gleich zur neuen Schwiegermutter nach Hamburg. lm März 1967 wurde geheiratet. Jürgen installierte Antennen und reparierte Fernseher. Ich machte die


Buchhaltung und Bestellungen. Schon im September 1967 bekam Anna eine Schwester, Kati. 1969 übernahm ich eine Waisenhausgruppe als Begleiterin für eine Reise. Mit Anna, Kati und drei Kindern


meines Bruders hatte ich drei Wochen lang zwölf Kinder zu betreuen. Danach kam für sechs Jahre Kurt, damals 12 Jahre alt, zu uns in Pflege. Mein Mann Jürgen war viel mutiger als ich und


kaufte 1970 ein Grundstück in Rudow mit einem verlausten Hund, drei Autowracks und einer alten Hütte. Für die Kinder ein Abenteuerspielplatz, für mich schlaflose Nächte. Nun wurden Schulden


aufgenommen und gebaut, und 1975 konnten wir aus unserer dunklen Neuköllner Wohnung ausziehen. Fast auf der Baustelle kam 1972 mein drittes Kind Esther auf die Welt. Trotz der vielen Arbeit


ging es uns gut: vier Kinder, ein großes Haus und Hund, Katze, ein Schwein Porky, Kaninchen, Hühner. ALS GESCHIEDENE FRAU 1975 wollte ich mein eigenes Geld verdienen und ging zur Deutschen


Bank. 1977 wurden wir eines der typischen Ehepaare, das sich durch Überforderung auseinanderlebte. Wir ließen uns friedlich scheiden. Es gab viel zu tun, meine Zeit als geschiedene Frau war


knapp, was mich oft überforderte. Gleichzeitig wurde mein Gesundheitszustand schlechter. Ich verkaufte das Haus 1988 und zog in mein kleines Hexenhaus in Buckow. Ich legte einen Teich an,


pflanzte und säte und nahm immer wieder Sorgenkinder auf, die mein Chef, der liebe Herr Kögel, mir ans Herz legte. Er selbst erkrankte an MS, und ich holte ihn lange Zeit jeden Morgen mit


dem Rollstuhl ab und betreute ihn in der Bank bis zu seinem Abschied 1989. In diesem Jahr lag ich wochenlang im Krankenhaus, Ende 1992 dann der Wechsel in die Berufsunfähigkeitsrente. Das


hinderte mich aber nicht, mein Pflegekind Tilli zu betreuen. 1995 kam meine erste Enkeltochter zur Welt, sieben Wochen später die zweite, und es folgten noch 3 Enkel. Mein Garten wurde zum


großen Spielplatz, der Dachboden zur Zirkusarena. Meiner guten Freundin Ingrid in Hamburg habe ich 1995 bis zur letzten Minute die Hand gehalten. Mein Bruder bekam mit 59 einen Schlaganfall.


Ich kümmerte mich während seiner 13 Jahre im Heim intensiv um ihn. Als Pflegefälle kamen noch Tante Hilde und dann meine Mutter dazu. Zu meinem 75. Geburtstag überraschte mich Anna mit


einer Tagesspiegel-Sonderausgabe. Alle Familienmitglieder und Freunde hatten Artikel über mich geschrieben. Das ist bis heute ein absolutes Highlight. Nach einer großen Operation 2023 habe


ich in weiser Voraussicht mein Ende geplant. Seit Mai 2024 ist schließlich der „worst case“ eingetreten. Jetzt kommt für mich keine OP oder Bestrahlung mehr in Frage. Es war kein einfaches


Leben. Ich musste viele Träume und Wünsche begraben. Das solltet ihr alle nicht tun. Für mich war es nie eine Frage: Menschen, die Hilfe brauchten, stand ich zur Seite, egal wie lange. Zum


Schluss eine Bitte an Euch alle: Kämpft für unsere Demokratie, gegen Judenhass und Krieg. Ich hatte so viele Jahrzehnte ein Leben ohne Krieg. Das wünsche ich Euch allen von Herzen. Und:


Lasst mich in Ruhe schlafen.