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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * SPIEGEL: Herr Broich, die neue Bundesliga-Spielzeit beginnt und der
Terminplan bis zur Europameisterschaft 2021 ist so eng getaktet wie noch nie. Joachim Löw kritisierte die wenigen Pausen bereits und sagte: "Die Spieler gehen auf dem Zahnfleisch."
Wird es eine Saison, in der die Fitness entscheidet? HOLGER BROICH: Es gibt den Spruch: Fitness ist nicht alles, aber ohne Fitness ist alles nichts. Da ist etwas Wahres dran. Vielleicht
werden Physis und Regeneration in dieser Saison noch einmal wichtiger als bisher schon. Die nächste Saison wird eine Herausforderung. Holger Broich, geboren 1974, ist seit 2014 Leiter der
Abteilung Wissenschaft, Leistungsdiagnostik und Fitness beim FC Bayern. Dort ist er für den Bereich des Profifußballs und Nachwuchs verantwortlich. Von 2003 bis 2014 arbeitete er als
leitender Sportwissenschaftler und Leistungsdiagnostiker bei Bayer Leverkusen. Er studierte Sportwissenschaft mit dem Schwerpunkt Training und Leistung an der Deutschen Sporthochschule Köln.
SPIEGEL: Eine Gefahr sind Verletzungen durch Überbelastung. Wie kann man die verhindern? BROICH: Wir beim FC Bayern nutzen beispielsweise Monitoringsysteme, die uns die mögliche
Verletzungsgefahr eines Profis anzeigen. Hier beobachten wir, wie sehr ein Spieler im Training und im Spiel belastet worden ist und wie seine Regeneration verläuft. Wir haben
"Ampelsysteme", aber eben für verschiedene Messbereiche, also mehrere Ampeln. Die Ampeln beziehen sich auch inhaltlich auf unterschiedliche Datenquellen. SPIEGEL: Welche
Verletzungen entstehen für gewöhnlich, wenn eine rote Ampel missachtet wird? BROICH: Häufig sind es Muskelverletzungen. Man kann nicht alles verhindern, Fußball ist eine Zweikampfsportart.
Aber wenn zu viele Verletzungen dieser Art auftreten, muss man sein System hinterfragen. Dann stimmt einfach irgendetwas mit der Belastungssteuerung nicht. Es ist nicht so, dass wir bei
einer roten Ampel einen Spieler sofort rausnehmen, aber sie ist ein Warnsignal und anschließend gehen wir im Trainerteam mit Hansi Flick an der Spitze in den Austausch und besprechen die
nächsten Schritte. Weniger Trainingseinheiten sind eine Möglichkeit, die Belastung zu reduzieren. SPIEGEL: Der DFB hat seine Nationalspieler von Stuttgart ins 250 Kilometer entfernte Basel
ins Flugzeug gesetzt statt mit Zug oder Bahn zu reisen, auch, um die Regeneration der Profis nicht zu gefährden. Das ist aber schon übertrieben, oder? BROICH: Ich kenne die Gründe für diese
Entscheidung nicht im Detail. Man wird es intern besprochen und sich bewusst dafür entschieden haben. SPIEGEL: Sie waren bereits in der Zeit unter Pep Guardiola für den FC Bayern tätig.
Bei ihm traten im finalen Saisondrittel häufig Muskelverletzungen auf. Gab es das Ampelsystem damals noch nicht? BROICH: Doch, das gab es bereits. Aber jeder Trainer hat seine eigene
Philosophie, alle arbeiten unterschiedlich. Ich hatte schon einige Cheftrainer beim FC Bayern: Pep Guardiola, Carlo Ancelotti, Jupp Heynckes, Niko Kovac, jetzt Hansi Flick. Jeder hat seinen
eigenen Führungs- und Kooperationsstil. Man muss aber ehrlicherweise sagen, dass wir damals noch nicht ganz so weit waren, wie wir heute sind. SPIEGEL: Niko Kovac hat vor knapp 18 Monaten
während seiner Bayern-Zeit gesagt, man kann nicht versuchen, mit einer Mannschaft 200 km/h schnell über die Autobahn zu fahren, wenn sie nur 100 km/h schafft. Das Team, auf das dieser Satz
bezogen war, ist nahezu dasselbe gewesen, das nun das Triple aus Meisterschaft, DFB-Pokal und Champions League gewonnen hat. Wie ist das möglich? BROICH: Es gab einen Trainerwechsel.
SPIEGEL: Wie ist es denn unter Flick? BROICH: Hansi Flick vertraut der Expertise und den Leuten, die in den Fachbereichen arbeiten, also auch mir. Er hört uns allen zu. Hansi ist ein
ausgesprochener Teamplayer. Wie er die Mannschaft und den Staff führt, das ist wirklich überragend, da hat Hansi sehr große Fähigkeiten. Er macht das mit Empathie und Vertrauen, er
vermittelt den Leuten große Wertschätzung, gleichzeitig verlangt er auch sehr viel. Aber es ist auch so, dass mit ihm als Cheftrainer alles steht und fällt. Wir aus den Fachbereichen sind
seine Bodyguards. Wir unterstützen ihn, so gut es geht, aber am Ende muss er entscheiden. SPIEGEL: Sind die Fußballer des FC Bayern an Ihrem Fachbereich interessiert? BROICH: Auf jeden Fall.
Ich glaube aber auch, dass die Corona-Situation hier eine besondere Rolle gespielt hat und dass sie noch mehr Bewusstsein für dieses Thema geschaffen hat. Wir hatten sehr lange keine
Wettkämpfe, aber gleichzeitig war eine hohe Bereitschaft vorhanden, fit zu bleiben und noch fitter zu werden. Wir konnten uns über einen sehr langen Zeitraum vorbereiten, wir konnten
überschwellige Trainingsreize setzen und wir mussten dabei auf keine Wettkämpfe Rücksicht nehmen. Als die Wettbewerbssaison wieder anfing, waren wir physisch voll auf der Höhe - und haben am
Ende sogar das Triple gewonnen. Da hat man gesehen, was auch Fitness bewirken kann. SPIEGEL: Löw hat einst die berühmten deutschen Tugenden, laufen, kämpfen, beißen, also körperliche
Fitness, als das kleine Einmaleins im Fußball bezeichnet, kann jeder und hat jeder. Es sei die Voraussetzung für alles Weitere. Hat beim Champions-League-Turnier jeder das kleine Einmaleins
beherrscht? BROICH: Durch den Austausch mit anderen Kollegen weiß ich schon, dass viele Vereine sich in diesem Fachbereich entsprechend positionieren. Gerade Olympique Lyon im Halbfinale war
körperlich stark. Das Team hat die sehr lange Corona-Unterbrechung in der französischen Liga offenbar gut genutzt. Das "kleine Einmaleins" reicht heute einfach nicht mehr aus. Es
sollte schon das "große" dazukommen. SPIEGEL: Was muss man darunter verstehen? BROICH: Mir steht beim FC Bayern ein recht großes wissenschaftliches Begleitteam zur Verfügung, in
dem kontinuierlich Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen arbeiten. Wir berücksichtigen immer evidenzbasiert aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse. Wir verwenden ausgefeilte
Messtechniken. Die Daten werden nicht nur deskriptiv erhoben, sondern folgen dem Prinzip "Selektion - Aggregation - Bewertung - Umsetzung - kritische Reflexion" mit dem Ziel der
Gesunderhaltung und Leistungsoptimierung. Angesichts der großen Datenmenge kommen hier natürlich auch anspruchsvolle statistische Methoden und solche der künstlichen Intelligenz zum Einsatz
- und eben nicht nur das "kleine Einmaleins". SPIEGEL: Von Leroy Sané erhofft sich der FC Bayern viel. Bekommen Sie auch ihn auf den Punkt fit? Immerhin kommt er aus einer
Kreuzbandverletzung. BROICH: Es war eine schwierige Konstellation. Als wir uns bereits für das Champions-League-Turnier in Lissabon vorbereitet haben, musste Leroy weiter in München
trainieren. Er war im vergangenen Jahr sieben Monate verletzt und benötigt noch etwas Zeit. Noch hat er Luft nach oben. Er erreicht sein Limit allerdings auch nur mit Wettkampfpraxis, die
können wir nicht im Training simulieren, deswegen muss er jetzt auf Einsätze kommen. SPIEGEL: Alphonso Davies ist wohl die Entdeckung der vergangenen Saison. Wie betrachten Sie ihn und wird
seine Entwicklung so gradlinig weitergehen? BROICH: Phonzie ist eine Rakete. Ich habe selten einen Spieler gesehen, der über eine solch enorme Schnelligkeit verfügt. Wenn man sich seine
Daten ansieht, ist das wirklich aufregend. Der macht alles, wirklich alle Bewegungen, im maximalen Tempo. Und der macht keine zehn, 15 Sprints pro Spiel, sondern 40 oder 50 - das ist immens,
und deswegen überrascht mich seine Entwicklung nicht so sehr. Aber er hat sich auch taktisch gesteigert, er ist selbstbewusst, weil ihm der Trainer vertraut. Allerdings ist auch der Akku
von Phonzie irgendwann mal leer, gerade jetzt, wenn wir alle drei Tage ein Spiel haben werden. Wir werden ihn auch mal bremsen müssen. SPIEGEL: Was sagt eigentlich ein Uli Hoeneß zu Ihrer
Arbeit, also einer, der eher lauter und polemischer über den Fußball spricht? BROICH: Wir haben auf jeden Fall schon viele Gespräche geführt, und am Anfang waren die auch mal kontroverser.
Ich werde nie vergessen, wie er einmal sagte, man dürfe den Fußball auch nicht zu verwissenschaftlichen. Aber das passiert bei mir auch nicht, das will ich gar nicht. Ich selbst habe mal
Fußball gespielt und das hilft dabei abzuschätzen, welche wissenschaftlichen Ansätze uns weiterbringen können - und welche eher nicht. Wir betreiben keine Grundlagenforschung, sondern
Anwendungsforschung. Messen können wir vieles, aber es muss auch Sinn ergeben. Ich glaube, Herr Hoeneß ist inzwischen ganz beruhigt.