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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?
"It's the Economy, stupid." Mit diesem einfachen wie fernsehgerechten Motto vertrieb Bill Clinton 1992 seinen Amtsvorgänger George Bush senior aus dem Weißen Haus. Auch in
Deutschland würde man erwarten, dass die Ökonomie im Brennpunkt des Bundestagswahlkampfs steht. Die Finanzkrise und die schwerste Rezession der Nachkriegszeit bieten genügend politischen
Zündstoff: Die Beschäftigung sinkt, die Staatsverschuldung steigt auf neue Höchststände, das Vertrauen in die soziale Marktwirtschaft ist bei vielen Menschen dahin. Trotzdem setzen sich die
Parteien kaum wirklich mit der Krise auseinander. Dabei wäre dies nun nötiger denn je: Die schöpferische Kraft des Wettbewerbs wird von vielen in Frage gestellt. Das gleiche gilt für die
moralische Integrität von Managern und Aufsichtsbehörden. Für die breite Öffentlichkeit ist klar: Die von Regulierung befreiten Märkte müssen wieder an staatliche Ketten gelegt werden. Der
Kasino-Kapitalismus müsste gezähmt und die Finanzmärkte müssten zivilisiert werden. Ein diffuses Gefühl von Ungerechtigkeit macht sich in Deutschland breit. Die öffentliche Meinung glaubt,
dass für die einen milliardenschwere Hilfsprogramme geschnürt werden - und den anderen eine Anhebung der Renten, der Sozialhilfe oder des Arbeitslosengeldes verwehrt wird. Banker-Bashing
gehört mittlerweile zum Allgemeingut der politischen Diskussion, was nur zeigt, wie frostig das Klima zwischen "oben" und "unten" geworden ist. Und wie Frustration, Neid,
Ohnmacht und Angst weitere soziale Spannungen erzeugen. In dieser Zeit der kapitalismuskritischen Kälte muss jede marktwirtschaftliche Maximalforderung scheitern. Akzeptiert man die
nüchterne, pragmatische und weniger ideologische Ausgangslage, dann ist es schlicht nicht die Zeit der großen wirtschaftspolitischen Zukunftsagenden. Trotzdem wäre es ein Fehler, sich nur am
politisch Machbaren zu orientieren - und nicht am ökonomisch Wünschenswerten. DIREKTE STEUERN RUNTER, INDIREKTE STEUERN RAUF Klar ist: Eine grundlegende Steuerreform muss das zentrale
wirtschaftspolitische Thema einer neuen Bundesregierung sein. In einem ERSTEN SCHRITT sollte man sich von direkten Einkommens- oder Unternehmenssteuern ab- und zu indirekten Steuern, also
insbesondere zu Mehrwert- und Verbrauchssteuern, hinwenden. Im Detail heißt das: Wir brauchen eine Anhebung des Steuerfreibetrags pro Kopf, die Abschaffung der kalten Progression und ein
Übergang zu einem Stufenmodell mit drei unterschiedlichen Steuersätzen - einem tiefen Steuersatz für Geringverdiener, einem mittleren für mittlere und einem hohen für höhere
Einkommensgruppen. Wie hoch die Steuersätze in der Praxis konkret sein und für welche Einkommensgruppen sie genau gelten sollen, müsste das Ergebnis der zu führenden Koalitionsverhandlungen
sein. Kritiker monieren, dass eine höhere Mehrwertsteuer sozialpolitisch bedenklich ist. Das ist in gewisser Weise richtig: Die Mehrwertsteuer trifft alle gleich und nimmt keine Rücksicht
auf die Leistungsfähigkeit der Verbraucher. Die Mehrwertsteuer besteuert denjenigen, der konsumiert. Weil Arme einen größeren Teil ihres Einkommens für Güter des täglichen Verbrauchs
ausgeben müssen als Reiche, ist die Mehrwertsteuer ungerecht. Dies kann aber durch gezielte direkte Hilfen an einkommensschwache Haushalte korrigiert werden. Höhere Freibeträge pro Kopf bei
den direkten Steuern sind eine zielgenaue Entlastung, die genau jenen besonders hilft, die durch die Mehrwertsteuer besonders belastet werden. Wer die Gerechtigkeit im Auge hat, soll den
Armen und Schwachen der Gesellschaft direkt helfen. Er soll das Arbeitslosengeld anheben, für qualitativ gute und trotzdem billige Kindertagesstätten sorgen, ebenso wie für Ganztagsschulen
mit kostenlosem Mittagessen. Und er soll den Arbeitsmarkt flexibilisieren, so dass viele Menschen möglichst rasch eine Beschäftigung finden. Sozialhilfe bis hin zu einem Bürgergeld für alle
wirkt dort am stärksten, wo die Not am größten ist. Sie sind ökonomisch die besseren Antworten als der Versuch, mit einer niedrigen Mehrwertsteuer Sozialpolitik zu betreiben. DER FAKTOR
ARBEIT WIRD EINSEITIG BELASTET Der ZWEITE ECKPFEILER einer großen Steuerreform ist ebenso wichtig: Die Sozialversicherungssysteme dürfen nicht mehr über die Lohnnebenkosten finanziert
werden, wesentlich effizienter ist eine Finanzierung über Steuern. Heute wird jede Arbeitsstunde mit zusätzlichen Abgaben von fast 40 Prozent belastet. Die Lohnnebenkosten verteuern
einseitig den Faktor Arbeit, so dass selbst dort Automaten eingesetzt werden, wo Menschen genauso gut die Aufgaben erledigen könnten. Kein Wunder, dass Arbeitskräfte durch Maschinen ersetzt
werden. Kein Wunder, dass für viele die Schwarzarbeit attraktiv ist. Kein Wunder, dass arbeitsintensive Produktionsprozesse ins Ausland verlagert werden. Alles, was die Lohnnebenkosten
senkt, hilft der legalen Beschäftigung - gerade bei Geringqualifizierten und Niedrigverdienern. Das heißt: Kapitaleinkommen, Zinserträge, Mieteinnahmen und eben auch die Mehrwertsteuer
sollten einen weitaus höheren Beitrag zur Finanzierung der Sozialversicherung leisten. MINDESTSICHERUNG STATT MINDESTLOHN DRITTENS: Eine pragmatische, konsensorientierte Steuerreform müsste
die sozialpolitische Forderung nach Mindestlöhnen aufgreifen. Es gibt gute ökonomische Gründe, die gegen Mindestlöhne sprechen. Aber offensichtlich laufen sie politisch ins Leere. Eine
überragende Mehrheit der Deutschen plädiert für Mindestlöhne. Die Angst, durch Arbeit nicht genug zu verdienen, belastet viele. Selbst jene, die gut verdienen, sind sich nicht sicher, wie
lange sie ihren Job noch haben. Also hoffen auch sie insgeheim auf Mindestlöhne, um im Falle eines Falles nicht ins Bodenlose zu stürzen. Gegen diese Sorgen helfen theoretisch-ökonomische
Hinweise wenig. Ein politischer Kompromiss bestünde darin, den Fokus weg von einem Mindestlohn hin zu einer Mindestsicherung zu verlagern. Festzulegen ist eine Mindestsicherung für alle -
wie sie faktisch durch das Arbeitslosengeld II und die Sozialhilfe bereits besteht. Haben sich die Parteien einmal auf die Grundsatzentscheidung für ein Grundeinkommen geeinigt, dann ist die
Festlegung der Höhe nur noch eine Frage der politischen Präferenzen. Dabei gilt ein äußerst einfacher ökonomischer Zusammenhang: Ein hohes Grundeinkommen bedingt hohe Steuersätze, ein
niedriges Grundeinkommen ermöglicht tiefe Steuersätze. Hohes Grundeinkommen und hohe Steuersätze verringern den Anreiz zu arbeiten, niedriges Grundeinkommen und niedrige Steuersätze
verstärken den Anreiz zu arbeiten. Je höher der Anreiz zu arbeiten, umso einfacher wird das Grundeinkommen zu finanzieren sein, je geringer die Arbeitsanreize, umso weniger wird das
Grundeinkommen finanzierbar sein. So einfach ist die ökonomische Logik des politisch Machbaren.