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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? Schon
früh wollte der Geologe Michael Stipp alles über den Planeten Erde wissen. Über das, was ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, im Innersten zusammenhält. "Und während der Doktorarbeit
wurde mir klar, dass ich gerne dauerhaft in der Wissenschaft arbeiten möchte", sagt er. Die Begeisterung für sein Spezialgebiet, die Strukturgeologie und Tektonik der
Kontinentalplatten, möchte der 36-Jährige an seine Studenten unbedingt weitergeben. Stipp hatte bis vor kurzem eine befristete Hochschulassistenten-Stelle an der Universität Freiburg. Er
weiß, dass er damit zu den Sonntagskindern seines Faches gehört. "Zurzeit wird ein geowissenschaftlicher Lehrstuhl nach dem anderen gestrichen und die Institute gleich mit", sagt
er und zählt auf: "Stuttgart, Würzburg, Gießen, Clausthal." Für Geowissenschaftler, die sich, wie Stipp, der Grundlagenforschung verschrieben haben, gibt es immer weniger
interessante Jobs, wenn sie in der Wissenschaft bleiben wollen. Da stellt sich zwangsläufig die Frage: Kann ich mein Leben tatsächlich auf einer Wissenschaftler-Tätigkeit an einer
Universität aufbauen? In der Industrie hätte Stipp vermutlich sofort anheuern können - unbefristet und gut bezahlt. Er hat etwas vorzuweisen: Studium in Darmstadt und Göttingen, Promotion an
der Uni Basel, einige Postdoc-Jahre an der amerikanischen Ivy-League-Hochschule Brown University im US-amerikanischen Providence. Laut dem Berufsverband Deutscher Geowissenschaftler (BDG)
ist die Nachfrage nach Geowissenschaftlern in den Zeiten der Rohstoffknappheit besonders in der Energie- und Erdölbranche international groß. "Auf fast jeden Absolventen kommt derzeit
eine freie Stelle in der Industrie", schätzt der BDG-Vorsitzende Hans-Jürgen Weyer. KOPF ODER BAUCH, WER GEWINNT? Stipp ist Vater von zwei kleinen Kindern, das verlangt nach einer
gewissen Sicherheit. Im Augenblick zieht ihn nichts in die Industrie. Doch wenn es für ihn in der Wissenschaft nicht weitergehen sollte, sagt Stipp, würde er wohl doch versuchen, dort
einzusteigen. Und seine Frau, eine Psychologin, würde sich wieder einen Fulltime-Job suchen. Für viele Nachwuchswissenschaftler, die es satt haben, sich von Befristung zu Befristung zu
hangeln, ist die Wirtschaft eine Alternative. Und eine Kopfentscheidung. Denn die von der Bundesregierung beschlossene Modifizierung der sogenannten Zwölf-Jahres-Befristung für die
Qualifizierungsphase von Nachwuchswissenschaftlern entschärft die Situation nicht wirklich. Nach wie vor gilt: Wer langfristig in der Wissenschaft bleiben will, muss irgendwann eine
Professur ergattern, sonst hangelt man sich von Befristung zu Befristung. Doch der Bauch hat auch ein Wort mitzureden. Wenn es nur nach ihm ginge, würden - laut einer Umfrage des
Meinungsforschungsinstituts TNS Infratest - 63 Prozent der hochqualifizierten Uni-Absolventen am liebsten in der Wissenschaft arbeiten. Auch Michael Stipp hörte auf seinen Bauch und liegt im
Augenblick offenbar richtig damit. Denn zum April wechselte er als wissenschaftlicher Angestellter ans renommierte und finanziell gut ausgestattete Institut IFM Geomar nach Kiel. Jahr für
Jahr stehen in Deutschland - so sagt es eine Erhebung des Statistischen Bundesamtes - etwa 20.000 frisch promovierte junge Nachwuchswissenschaftler vor der alles entscheidenden Frage:
Bleiben oder gehen? Uni oder Industrie? Kann ich von der einen Seite wieder zurück auf die andere wechseln? Sie sind zu diesem Zeitpunkt durchschnittlich 33 Jahre alt. Und egal ob
Naturwissenschaftler, Ingenieur oder Geisteswissenschaftler: Für alle ist in diesem Alter die "rush hour of life" angebrochen. STÄNDIGES NOMADENTUM ZWISCHEN 30 UND 40 Eckart
Hildebrandt, Experte für den Bereich Arbeitsmarkt und Work-Life-Balance am Wissenschaftszentrum Berlin, verwendete diesen Begriff in seinem gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern 2006
verfassten Manifest "Zeit ist Leben". Er meint damit die Lebensphase zwischen etwa 25 und 45 Jahren, die, so Hildebrandt, "geprägt ist durch die Konkurrenz von verschiedenen
Anforderungen, die man an sich selbst stellt: Karriereplanung, Familiengründung, gesellschaftliches Engagement, Hausbau. All dies soll in einer Kernzeit von zehn bis 15 Jahren passieren.
Heutzutage meistens im Alter zwischen 30 und 40." Veränderte gesellschaftliche Verhältnisse wie die Wandlung der Geschlechterrollen und die Lockerung des Generationenvertrages,
verbunden mit der Angst vor dem sozialen Absturz, lassen für Wissenschaftler in der Qualifizierungsphase die Rushhour oft zur kräftezehrenden Stress-hour werden. Denn: Wie soll man eine
Familie gründen, wenn man ständig nomadengleich von Postdoc-Stelle zu Postdoc-Stelle ziehen muss? Das gilt verstärkt noch für Wissenschaftlerinnen, deren irgendwann laut tickende biologische
Uhr signalisiert, dass die Zeit für die Familienplanung abläuft. Für die Biologin Julia Hepp etwa war dies, unter anderem, ein Grund, sich nach dem Studium in Göttingen, der Doktorandenzeit
an der britischen Elite-Uni Cambridge und zwei Postdoc-Jahren an der Uni Zürich eine Festanstellung in einem Münchner Biotech-Unternehmen zu suchen. "Mir war immer klar, dass ich einen
Partner und Familie möchte und dass die Wissenschaft nicht mein ganzes Leben bestimmen soll", sagt sie. BROT-UND-BUTTER-FORSCHUNG IN DER INDUSTRIE - ABER ANSTÄNDIGES GEHALT UND GUTES
ARBEITSUMFELD Die 35-Jährige, ehemals Marie-Curie-Fellow, leitet mittlerweile die Abteilung für Antikörper-Entwicklung. "Natürlich ist Industrieforschung eher
'Bread-and-Butter'. Viele Blicke nach rechts und links sind nicht möglich", räumt sie ein. Dafür habe sie aber entdeckt, "dass mir die Management-Aufgaben, die zu meinem
Job gehören, großen Spaß machen." Und außerdem arbeite es sich ohne den an den Unis und Instituten herrschenden permanenten Kampf um Drittmittel wesentlich entspannter. Mittlerweile ist
sie übrigens Mutter einer zwölf Monate alten Tochter und gerade in Elternzeit. Natürlich spielt auch das Geld eine Rolle. In der Industrie verdienen junge Forscher oft das Doppelte von
einem Postdoc-Gehalt an der Uni. "Man arbeitet als Doktorand und Postdoc wie verrückt und wird schlecht bezahlt", klagt Heike Gröger. Wie Michael Stipp ist auch sie Geologin, fand
jedoch keine Postdoc-Stelle. Frustriert nahm sie im vergangenen Herbst schließlich eine Stelle als Senior Geologist bei der norwegischen Erdölfirma Statoil in Stavanger an - "sehr
anständig bezahlt, und meine Promotionszeit wurde als Berufserfahrung anerkannt", betont sie. Auch sonst tut das Unternehmen viel, um ihr das Einleben zu erleichtern: bezahlt einen
Privatlehrer, der mit Heike Gröger Norwegisch paukt, bietet ihr eine Firmenwohnung zu günstigen Konditionen. Kurz: Man gibt ihr das Gefühl, eine Leistungsträgerin zu sein. Nur - mit
Forschung haben ihre geologischen Analysen zur Charakterisierung von Öl- und Gasreservoirs nicht mehr viel zu tun. "Es geht um Effizienz und die Vermeidung unnötiger Kosten", fasst
Heike Gröger zusammen. Zeit ist Geld. Und wenn in der Industrie geforscht wird, dann nie zum Selbstzweck. Nicht allen Jungforschern ist das von vornherein klar: dass Projekte sang- und
klanglos eingestellt werden, wenn sie keinen Profit bringen. WIE AUF ZWEI PLANETEN Wirtschaftsleute und Wissenschaftler leben oft wie auf zwei völlig verschiedenen Planeten, obwohl sie viel
voneinander profitieren könnten, etwa beim Austausch von Know-how. Das sieht auch das Bundesforschungsministerium (BMBF) so - und wird deshalb die nächste Konferenz der noch jungen
Diskussionplattform "Forum Karriere" im Mai der Mobilität an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Wirtschaft widmen: Wie kann in der Qualifizierungsphase junger
Wissenschaftler der Wechsel zwischen Uni und Industrie erleichtert werden? "Der moderne Wissenschaftler", sagt Susanna Schmidt, Leiterin der Abteilung Strategie und Grundsatzfragen
im BMBF, "sollte sich in beiden Systemen auskennen." In den USA oder in England sei es selbstverständlich, dass Wissenschaftler regelmäßig Ausflüge in die Wirtschaft machten. Das
Ministerium hat außerdem gemeinsam mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft einen Wettbewerb ausgelobt , der Hochschulen, die den Austausch mit der Wissenschaft vorantreiben,
finanziell belohnt. Wichtig ist es, den richtigen Zeitpunkt für einen Wechsel zu erwischen. "Das ist sicherlich auch noch vier bis fünf Jahre nach der Doktorarbeit möglich. Die Frage
ist dann nur: Auf welcher Ebene werde ich im Unternehmen angesiedelt?", sagt etwa Henning Zülch, Wirtschaftswissenschaftler an der privaten Leipzig Graduate School of Management und
Vorstandsmitglied von Juniorprofessur e.V.. Denn oft haben die Jobs, die man Wissenschaftlern in der Wirtschaft anbietet, eher mit Projektmanagement als mit Forschung zu tun. Wer zu lange
ausschließlich in der Wissenschaft gearbeitet hat, gilt für solche Jobs schnell als ungeeignet, weil zu theorielastig. PROFESSUR ZUR RECHTEN ZEIT - DAS TIMING MUSS STIMMEN Und wenn man erst
als Habilitierter oder aus einer Juniorprofessur heraus in die Industrie wechseln will, "hat das für manchen Personalchef sogar den Beigeschmack des Scheiterns", sagt Zülch.
Juniorprofessoren auf Jobsuche in der Industrie seien gar nicht so selten. Denn: "Die Juniorprofessur - und damit auch die Karriereperspektiven an Universitäten - entwickelt sich
derzeit nicht weiter", kritisiert Zülch. "Als Juniorprofessor ist man Manövriermasse ohne sichere Aussichten." Erst wenige Universitäten haben, so wie die Berliner
Humboldt-Universität, Tenure-Track-Richtlinien als ein Instrument der Nachwuchsförderung verabschiedet. Henning Zülch selbst ist ein Beispiel dafür, dass Hin- und Herwechseln durchaus
möglich ist - wenn das Timing stimmt. Der heute 33-Jährige arbeitete nach der Promotion zunächst eine Zeit lang beim Wirtschaftsprüfer Ernst & Young in Dortmund und kehrte danach in die
Wissenschaft zurück - als Juniorprofessor an die TU Clausthal. Ende vergangenen Jahres erhielt er dann einen Ruf an die Leipziger Privathochschule. "Mir liegt das freie, selbstbestimmte
Arbeiten mehr als das normale Angestelltendasein im Unternehmen", sagt Zülch. Die Professur kam zur rechten Zeit: "Meine Lebensgefährtin und ich wollten endlich einen 'steady
state' erreichen - nach Jahren des Pendelns zwischen verschiedenen Städten." Ansonsten, sagt Zülch, hätte er seine Brötchen wohl wieder in der Wirtschaft verdienen müssen:
Generation flexibel. Auch Harald Fuchs, Lehrstuhlinhaber für Experimentalphysik an der Uni Münster und Mitglied der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, plädiert für Flexibilität und mehr
Durchlässigkeit. Denn: "Es ist für einen Wissenschaftler wichtig, Einblicke in die Welt der Wirtschaft zu bekommen. Gerade auch vor dem Hintergrund von Forschungskooperationen mit
Unternehmen." Der 55-Jährige verbrachte selbst neun Jahre als Postdoc in der Industrie, die längste Zeit in einem Forschungsprojekt bei BASF, das das Unternehmen gemeinsam mit Bayer und
der damaligen Hoechst durchführte. 1993 erhielt er einen Ruf auf eine C4-Professur in Münster, als Nichthabilitierter. Fuchs räumt aber ein: "Mein Forschungsgebiet war an den Unis sehr
gefragt. Außerdem hatte ich während meiner Jahre in der Industrie ausreichend Gelegenheit zu publizieren." "ICH MUSS ZURÜCK IN DIE WISSENSCHAFT" Ohne das, sagt Fuchs, geht es
nicht. "Wer nicht weiterhin in Fachmagazinen publiziert, hat kaum Möglichkeiten, in der Wissenschaftsszene im Gespräch zu bleiben." Wer sich die Tür offenhalten will, sollte sich
also weiterhin auf Kongressen blicken lassen und Kontakt zu ehemaligen Kollegen halten. Genau das aber ist in vielen Unternehmen nicht erwünscht. Das betrifft in starkem Maße auch die
Geisteswissenschaftler. Wenn sie an der Hochschule keine Anstellung finden, wenden sie sich meistens ganz von der Forschung ab. So auch die Historikerin Kerstin Brückweh, die über
Serienmörder in der ehemaligen DDR und in der BRD promovierte und dann einen Job in einem Münchner Schulbuchverlag annahm. Was sie zunächst gereizt hatte, entpuppte sich bald als
Karriere-Sackgasse, weil sie den Kontakt zur Wissenschaft, der ihr wichtig war, zu verlieren drohte: Ihr Chef ließ sie nicht zum Historikertag oder zu anderen wichtigen Veranstaltungen
fahren. Ihr Ansinnen, weiterhin wissenschaftlich publizieren zu wollen, wurde mit hochgezogenen Augenbrauen quittiert. Sie kündigte nach zwei Jahren und arbeitet jetzt als wissenschaftliche
Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut in London. "Als ich diese Stellenausschreibung sah, war mir klar: Das passt. Ich muss zurück in die Wissenschaft." Wenn auch auf
drei Jahre befristet, natürlich.