Regisseurin alice rohrwacher: die bodenständige zauberin

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"Mit diesem Film wollte ich die Leute berühren", sagt Alice Rohrwacher. "Das ist meine Art, auf die politischen Veränderungen in Europa zu reagieren. Uns scheint vor lauter


Wut die Empathie verloren zu gehen." Selten sagen Regisseurinnen oder Regisseure, was ihre Absichten mit einem Film sind. Und wenn sie es sagen, ist es meist nicht nötig, weil ihre


Absichten eh aus jedem Bild sprechen. Bei Rohrwacher und ihrem dritten Film "Glücklich wie Lazzaro" ist das anders. Denn die Italienerin entführt in eine Welt, die kaum als die


unsrige erkennbar ist und die zunächst mehr Irritation als Empathie hervorruft. Eine Welt, in der es Leibeigenschaft zu geben scheint und man ohne Kontakt zur Außenwelt auf einer


Tabakplantage schuften kann. Eine Welt, in der Frauen wallende Röcke in Erdfarben tragen und die Männer unter ihren Fenstern Ständchen erbringen, um Herzen zu gewinnen. Und eine Welt, in der


es einen jungen Mann namens Lazzaro gibt, der jeden noch so undankbaren Auftrag mit einem freundlichen "Certo!", Na klar!, annimmt. Fotostrecke "Glücklich wie Lazzaro":


Helfen? Na klar! Foto: Piffl Rund eine Stunde lang erkundet "Glücklich wie Lazzaro" diese wundersam-raue, staubig-zerschlissene Welt, und es gehört wohl zu den erschütterndsten


Entdeckungen dieses Kinojahres, feststellen zu müssen, dass sie weniger fiktiv ist als gedacht. Denn Rohrwacher greift eine wahre Geschichte auf, von der sie als Schülerin gehört hatte. Eine


Großgrundbesitzerin hatte ihren Landarbeitern vorgegaukelt, die Halbinsel, auf der sie hausten, wäre durch eine Sturmflut vom italienischen Festland abgeschnitten worden. Über Jahre von der


Außenwelt abgeschirmt, lebten die Arbeiterinnen und Arbeiter unter ärmlichsten Verhältnissen. Erst durch einen Zufall wurden die Behörden aufmerksam und lösten die neo-feudalistische


Enklave auf. Was den Arbeitern danach widerfuhr, hat Rohrwacher, die stets eigene Drehbücher verfasst, frei erfunden und im zweiten Teil des Films inszeniert. Der spielt in einer Welt, die


sehr viel mehr Ähnlichkeiten mit unserer hat, aber in der Wunder wie in der Bibel möglich sind. Mit dem Heiligen Lazarus hat der Film laut Rohrwacher aber nichts zu tun. Der Titel sei nur


eine Redensart, dem deutschen "Hans im Glück" entsprechend. Wer den Film gesehen hat, kann ihr das kaum abnehmen, schließlich tauchen sämtliche Motive rund um Lazarus auf: Das


demütige Leben in Armut, der tragische Tod, die Wiederauferstehung, die Konfrontation mit seinem reichen Gegenüber, selbst die Nähe zu Tieren. WUNDERN UND WEINEN Trotzdem hat Rohrwacher auch


Recht, wenn sie sich gegen die Verengung auf das Religiöse wendet, denn "Glücklich wie Lazzaro" ist auf wunderbare Weise kompliziert: Er bringt das Wörtliche und das Allegorische,


das Heilige und das Profane, die Wirklichkeit und das Märchen zusammen. Herausgekommen ist ein Film, an dessen Ende man sich die Augen reiben muss. Weil man etwas so unaufgeregt


Einzigartiges im Kino lang nicht mehr gesehen hat. Und weil man die eine oder andere Träne wegwischen muss. "Elena Ferrante hat die großen Emotionen wieder stark gemacht", sagt


Rohrwacher über ihre Einflüsse. "Sie hat die italienische Kultur geöffnet." Obwohl Rohrwachers Filme die Anschlüsse an das neorealistische Kino ihrer Landsmänner Rossellini oder


Visconti nicht verleugnen, führen ihre Einflüsse, die literarischen wie auch die autobiografischen, weit darüber hinaus - in eine Art magischen Neorealismus. Fotostrecke "Land der


Wunder": Es war einmal in Umbrien Foto: Delphi Ihr zweiter Film "Land der Wunder" wagte sich bereits auf dieses Terrain. Nach Motiven ihrer eigenen, deutsch-italienischen


Familiengeschichte verband sie das Coming-of-Age eines widerborstigen Mädchens mit dem Überlebenskampf der familieneigenen Imkerei zu einer herrlich räudigen Fabel, an deren Ende Monica


Bellucci einen denkwürdigen Auftritt als gute TV-Fee hatte. Die Mutter spielte Rohrwachers Schwester Alba, mit drei Jahren Abstand die Ältere von ihnen und mit Auftritten in Film und


Fernsehen seit 2004 sowie diversen Auszeichnungen die bislang bekanntere Künstlerin. Auch in "Glücklich wie Lazzaro" spielt Alba mit. Zur Weltpremiere in Cannes im Mai schritt sie


mit Alice über den roten Teppich und gemeinsam gaben sie nicht nur das seltene Schwesternpaar ab. Beide verkörperten eine Weiblichkeit, wie man sie bei solchen Veranstaltungen kaum sieht:


Klassisch-grazil, doch ohne Glamour-Staffage und nackte Haut. Wenige Tage zuvor hatte Jurypräsidentin Cate Blanchett eine Reporterfrage, ob Frauen nicht auch mit schuld daran seien, wenn


ihre Rote-Teppich-Auftritte für mehr Aufsehen sorgten als ihre Filme, reflexhaft abgetan: Schönheit und Intelligenz würden sich nicht ausschließen, das müsse man bitte endlich kapieren. Die


Rohrwachers, könnte man meinen, hatten dieser Diskussion still etwas hinzuzufügen. Eine ähnliche Binnendifferenzierung findet sich auch in Alices Rohrwachers Filmen. Ihre Männer- und


Frauenfiguren sind nicht radikal, und doch ist in ihnen etwas offen und in Bewegung. "Ich arbeite gern mit Archetypen", sagt sie. "Nicht, um sie ungebrochen zu spiegeln,


sondern um mit ihnen unsere Welt zu erkunden und zu sehen, was sie uns über die Welt sagen können." Kein Wunder also, dass ihre Filme von Bauern und Gräfinnen, Müttern und Töchtern,


Feen und Bettlern bevölkert werden. Sie sorgen für eine Bodenständigkeit, die die Gefahr bannt, hier würde es sich um hübsch verzettelte Fantasterei handeln. Heraus kommen Filme, die mit


Selbstverständlichkeit in die vorderen Ränge des internationalen Autorenkinos vordringen. Seit ihrem Debütfilm "Corpo Celeste" von 2011 ist es für Rohrwacher zur freudigen


Gewohnheit geworden, Preis um Preis in Empfang zu nehmen, zuletzt in Cannes den für das beste Drehbuch. Wobei ihr viele Kritiker auch die Goldene Palme gegönnt hätten: Eine emotionalere


Premiere, an deren Ende die Rührung von Publikum und Filmteam tränenreich zusammenfloss, hatte das Festival nicht zu bieten. Damit hatte Rohrwacher ihr Ziel erreicht. Wie immer auf ihre ganz


eigene Weise.