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Ein Gericht erklärt die Zurückweisungspolitik für rechtswidrig, doch der Minister und seine Polizei wissen es besser. Geht es so weiter, riskiert Deutschland seinen Status in der EU. Ein
Kommentar von Jost Müller-Neuhof Es ist so etwas wie das Herzstück der lange angekündigten Migrationswende: Niemand ohne gültige Papiere soll mehr nach Deutschland einreisen dürfen, auch
Asylbewerber nicht. Denn diese haben, so die Rechnung, mindestens einen sichereren Staat passiert, um an die deutschen Landesgrenzen zu gelangen. Also werden sie dorthin zurückgewiesen. Etwa
nach Polen. Dafür brauchte man nicht einmal ein neues Gesetz. Eine Weisung an die Bundespolizei genügte. Doch nun folgt die Begegnung des exekutiven Vorhabens mit einer anderen, ebenfalls
einflussreichen Staatsgewalt. Das Berliner Verwaltungsgericht sprach drei Somaliern, die über Frankfurt/Oder kamen und nach Schutz suchten, das Recht auf Grenzübertritt zu. Die
Bundesrepublik ist es, die jetzt prüfen muss, welcher EU-Mitgliedstaat ein Asylverfahren zu führen hat. Und nicht Polen. Für Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) ist das – ja, was?
Eine Schlappe? Das Ende seines Projekts? Er spielt den Berliner Beschluss zur „Einzelfallentscheidung“ herunter und liegt zumindest formal richtig damit. Andere Gerichte könnten in ähnlichen
Fällen anderer Ansicht sein. Einfach mal abwarten. Das kann man eine Zeit lang so machen, denn es handelt sich um eine Konfrontation mit Ansage. Natürlich haben Hilfsorganisationen wie „Pro
Asyl“ unmittelbar auf Dobrindts Weisung hin nach geeigneten Fällen Ausschau gehalten, um sie auf den juristischen Prüfstand zu stellen. So geschah es auch hier. > Es bleibt offen, was
aus diesen Zahlen genau für die öffentliche > Ordnung oder Sicherheit der Bundesrepublik folgt. Aus einem der Beschlüsse des BERLINER VERWALTUNGSGERICHTS zu den Argumenten der
Bundesregierung. Zum Minister-Kalkül gehört, bei derartigen Schaukämpfen nicht gleich einzuknicken. Das ist verständlich, denn Klagen und das Feiern von Prozesserfolgen gehören für viele
Nichtregierungsorganisationen zum politischen Geschäft. Dobrindt ist zwar verantwortlich, aber er muss sich nicht vorführen lassen. Ein Blick in die Gerichtsbeschlüsse zeigt allerdings, dass
der Widerstand auf Dauer kaum durchzuhalten ist. Das deutsche Asylgesetz wird von den einschlägigen europäischen Regelungen verdrängt. „Anwendungsvorrang“ heißt das in der Sprache der
Juristen und es markiert den Kern der europäischen Rechtsgemeinschaft, die es eben auch im Asylrecht gibt. Dobrindts Versuch, seine Grenzpolitik im nationalen Interesse ausnahmsweise davon
freizustellen, ist bisher erstaunlich amateurhaft verlaufen. Statt mit Sorgfalt und Aufwand zu begründen, weshalb Deutschland sein Migrationslimit erreicht oder gar überschritten hat und die
Situation womöglich unbeherrschbar zu werden droht, wird auf Mängel im System verwiesen. Mängel, die vor allem darin bestehen, dass sich viele EU-Mitgliedstaaten beim Asyl nicht an
EU-Regeln halten. Das trifft zwar zu. Doch Dobrindts Zurückweisungen sind damit keine Lösung, sie sind Teil des Problems. Es ist viel verlangt von der Justiz, Regelbruch in Deutschland zu
erlauben, weil es woanders massenhaft Regelbruch gibt. In dieser Argumentation liegt vielmehr ein Appell an die Politik, selbst tätig zu werden und dafür Sorge zu tragen, in Europa zu einer
einheitlichen Praxis zurückzukehren. Das Manöver ihres unionsgeführten Teils hat die Bundesregierung nun insgesamt in eine missliche Lage gebracht. Sie macht sich in der EU dafür stark, das
gemeinsame Asylsystem neu zu ordnen, engagiert sich aber zugleich dafür, es national unterlaufen zu wollen. Das gibt ein schlechtes Beispiel ab. Entweder jeder für sich. Oder alle zusammen.
Möglich also, dass der Minister die allgemeine Reformdynamik eher schwächt statt sie zu unterstützen, wie es mit den Zurückweisungen ursprünglich gedacht war. Das wäre tragisch. Denn dass es
so nicht weitergehen kann, wie es ist, ist allen klar. Langfristig gehört die Asylprüfung an die EU-Außengrenzen, während die Lasten im Binnenraum besser verteilt werden müssen. Der
Bundeskanzler und sein Innenminister müssen irgendwann von dem Baum runter, auf den sie geklettert sind. Die groß angekündigte Schubumkehr an den Grenzen zeigt sich in der Praxis als bisher
wenig tauglich, rechtlich heikel und in ihrer Signalwirkung überschätzt. Die Justiz ist hier kein Gegner, sie ist Partner der Politik. Ein Minister sollte das zu schätzen wissen.