Neue literatur aus den niederlanden und flandern bei der leipziger buchmesse: jung, engagiert und alles, nur nicht flach

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Zum dritten Mal sind die Niederlande und Flandern das Gastland einer Buchmesse in Deutschland. Zeit für einen Besuch bei Autorinnen und Autoren in Amsterdam und Antwerpen. Als Connie Palmen


die Bibliothek der niederländischen Literaturstiftung in Amsterdam betritt, verändert sich sofort die Atmosphäre in den trotz der vielen Buchregale rundum nüchternen Räumlichkeiten in der


Neuen Prinsengracht. Palmen hat das, was man eine Aura nennt. Sie wirkt wie ein Popstar mit ihrer 80er-Jahre-Kim-Wilde-Frisur, auch kapriziös ist sie. Als sie von der Literaturkritikerin


Margot Dijkgraaf vorgestellt wird, sagt die Schriftstellerin als erstes: „Je älter man wird, desto weniger philosophiert man. Wer jung ist, neigt zu Abstraktionen. Doch wenn der Tod näher


rückt, ist alles nur noch Konkretion“. Palmen, die 1955 in Limburg nahe der deutschen Grenze geboren wurde, spricht über ihre Liebe zu Deutschland, die nicht zuletzt auf ihre Herkunft


zurückzuführen ist, über ihr erstes Buch „Die Gesetze“, das hierzulande sofort ein Erfolg wurde, und über die Zunahme starker Frauenstimmen in der Literatur. CONNIE PALMEN LIEBT PHILIP ROTH


Und sie spricht natürlich auch über ihren neuen, von Lisa Mensing übersetzten Essayband „Vor allem Frauen“. Darin kommt, deshalb das „vor allem“ im Titel, neben sieben Schriftstellerinnen


wie Virginia Woolf, Sylvia Plath oder Joan Didion auch ein männlicher Autor vor: Philip Roth, „ausgerechnet ein masturbierender, frauenhassender Mann“, sagt sie lachend. Aber, so steht es in


ihrem Roth-Essay: „Er ist einer der intimsten, aufrichtigsten, unerbittlichsten und geistreichsten Schriftsteller, die ich kenne.“ Palmen ist die bekannteste Schriftstellerin der knapp


vierzigköpfigen Autorinnen- und Autoren-Delegation, die den Gastlandauftritt der Niederlande und Flanderns bei der diesjährigen Leipziger Buchmesse bestreitet. Es ist das dritte Mal, dass


die Region sich bei einer Buchmesse in Deutschland präsentiert, nach 1993 und 2016 jeweils bei der Frankfurter Buchmesse. „Weltoffen“ war das Motto des Gastlandauftritts 1993, der zu einem


der erfolgreichsten in der Geschichte der Frankfurter Buchmesse wurde und die niederländische Literatur in Deutschland durchsetzte; „Dies ist, was wir teilen“ jenes beim zweiten Frankfurter


Auftritt. Dieses Mal haben sich die Organisatoren den etwas nichtssagenden, um nicht zu sagen: flachen Slogan „Alles außer flach“ einfallen lassen. Der täuscht allerdings nicht darüber


hinweg, dass man sich viel vorgenommen hat. Das auch vor dem Hintergrund, wie man in den Literaturkreisen Amsterdams allenthalben hört, dass Niederländisch als Literatur- wie Umgangssprache


mehr und mehr dem allgegenwärtigen Englisch weicht. Und das in einem in zwei Ländern gelegenen Sprachraum, der 1980 mit einem Sprachunionsvertrag zusammengeführt wurde: in den Niederlanden


mit seinen 15 Millionen Einwohnern. Und in Flandern und seinen sechs Millionen Einwohnern, dem flämischen Teil von Belgien, dem wiederum im Süden das französischsprechende Wallonien


gegenüberliegt. JUNGE AUTORENGENERATION Explizit wird in Leipzig nicht auf bekannte Namen gesetzt, auf Schriftsteller und Schriftstellerinnen, die gerade in den Jahren nach 1993 zu


Literaturstars wurden. Also nicht auf Cees Nooteboom, der vergangenes Jahr seinen 90. Geburtstag feierte. Nicht auf A. F. Th. van der Heijden, der sich nach dem Tod seines Sohnes


weitestgehend zurückgezogen hat, selbst aus der Amsterdamer Öffentlichkeit. Nicht auf Margriet de Moor oder Maarten’t Hart, auf die berühmten flämischen Autoren Erwin Mortier und Stefan


Hertmans, der mit seinem aktuellen Buch „Die Suche nach der Gegenwart“ beweist, was für ein guter Essayist er ist. Dafür reist eine Generation junger Autorinnen und Autoren zwischen 30 und


45 in die sächsische Messestadt, deren gesellschaftspolitische und literarische Botschaft das Kuratorinnenduo des Auftritts, Bettina Baltschev und Margot Dijkgraaf, etwas


gewunden-hochgestochen so beschreibt: _„Hier werden literarische Gipfel erklommen. Hier läutet der Roman die Alarmglocke für das Klima. Die Poesie hinterfragt Herkunft und Körperlichkeit.


Der Essay kritisiert den Krieg und besinnt sich auf die Gefahren, denen die Demokratie ausgesetzt ist. Vergessene Stimmen – Frauen, deren Rolle im öffentlichen Leben lange ignoriert wurde,


Nachfahren versklavter Menschen – erklingen aus den Tiefen der Geschichte. Sie sprechen heute laut und klar zu den Leser:innen der Gegenwart.“_ Da ist zum Beispiel Wytske Versteeg, die 1983


geboren wurde und in Delft lebt. Versteeg hat schon mehrere Romane veröffentlicht, nach „Boy“ ist „Die Goldene Stunde“ ihre zweite, von Christiane Burkhardt ins Deutsche übertragene


Veröffentlichung. Es geht in dem Roman um drei Menschen, die in einem nicht näher bezeichneten Land im Nahen Osten auf der Flucht sind: aus ihrer Heimat, vor sich selbst, vor ihrer


Vergangenheit. „Ich habe mich gefragt: Darf ich dieses Buch überhaupt schreiben?“, erzählt Versteeg bei einem Gespräch im Goethe-Institut in Amsterdam, „denn ich habe naturgemäß keine


Erfahrung als Geflüchtete.“ IRGENDWO IN AFRIKA Doch das Thema Flucht und Vertreibung treibe sie seit Jahren um. Zum Beispiel hat Versteeg versucht, geflüchtete Autoren und Autorinnen zu


unterstützen und ihnen zum Beispiel in einer literarischen Zeitschrift zu Texten verholfen. Sie sagt: „Es ist so wichtig, nicht immer nur dieselben Medienbilder zu verfolgen, sondern die


Geschichten von Geflüchteten in ihrer Komplexität zu erfahren.“ Oder Gaea Schoeters, eine flämische Autorin, die 1976 geboren wurde. Schoeters hat mit „Trophäe“ (aus dem Niederländischen von


Lisa Mensing) den vielleicht aufregendsten, provokativsten Roman dieser Saison geschrieben, eine Mischung aus „Herz der Finsternis“ und „Die grünen Hügel Afrikas“. Dabei rückt sie aber ganz


die Perversionen der Gegenwart in den Fokus. „Trophäe“ spielt irgendwo in Afrika, ein Land nennt Schoeters nicht – allein weil die Hauptfigur des Romans, der amerikanische Börsenmakler und


Großwildjäger Hunter White, ohne Bezug zur Realität des Kontinents ist. Für ihn sei dieser Ort eine „koloniale Fata Morgana“, so die Autorin im Gespräch: „Er weiß nichts von diesem


Kontinent, der interessiert ihn nicht. Für ihn ist das nur ein Themenpark, der zu seinem Vergnügen existiert.“ > Tierschutz wird vor allem aus ökonomischen Gründen betrieben, er > 


dient nur dem Verkauf weiterer Jagdlizenzen. Man ist dann nicht weit > davon entfernt, Menschenjagd als eine Art Entwicklungshilfe zu > begreifen. Gaea Schoeters, Autorin von „Trophäe“


Schließlich wird White angeboten, einen Menschen zu jagen. Er zögert nur kurz: „In seinem Kopf ringt er mit sich selbst, aber tief in seiner Brust, in seinem Herzen, in seinem Körper,


zweifelt er nicht: Als er den Jungen ansieht, spannen sich spontan alle Muskeln an, wie bei einem Raubtier, das sich auf den Sprung vorbereitet. Sein Körper will jagen, ganz gleich, was sein


Kopf davon hält.“ Was „Trophäe“ so furchterregend macht: Schoeters ist ganz nah dran an ihrer Hauptfigur, an den Bedingungen und Umständen der Jagd. Fast hyperrealistisch ist ihr Roman.


Wenn ein Donald Trump nicht müde wird, lateinamerikanische Migranten als „Tiere“ zu bezeichnen, ahnt man, dass jenseits kultureller Clashs dieser Roman mehr als ein perfides Gedankenspiel


ist. Wie sagt es Schoeters: „Tierschutz, so habe ich das bei den Recherchen für den Roman erlebt, wird vor allem aus ökonomischen Gründen betrieben, er dient nur dem Verkauf weiterer


Jagdlizenzen. Man ist dann nicht weit davon entfernt, Menschenjagd als eine Art Entwicklungshilfe zu begreifen.“ SURINAM UND DER JAGUARMANN Oder da ist Raoul de Jong, der für die großen


niederländischen Zeitungen wie Het Patrol und NRC Handelsblad schreibt und auch als Podcaster, Programmgestalter und Tänzer arbeitet. De Jong wurde 1984 in Rotterdam geboren als Sohn einer


Niederländerin und eines Surinamesen. Den Vater hat de Jong erst im Alter von 28 Jahren kennengelernt, und sein von Lotte Hammond übersetzter und in der Aachener edition amikejo erschienener


Roman „Jaguarman“ erzählt unter anderen diese Geschichte. Doch geht Raoul de Jong in seinem Buch noch viel weiter zurück in die Tiefe der Zeit, adressiert ist es in Form eines langen


Briefes an einen mythischen Vorfahren: „Das hier ist keine Geschichte über Weiß und Schwarz und über die Niederlande und Suriname, es ist auch keine Geschichte über meinen Vater, auch wenn


alle diese Elemente eine Rolle spielen. Das hier ist eine Geschichte über Dich.“ Das Du, das ist hier der Jaguarmann, ein Medizinmann, in dessen Spur der Erzähler sich setzt von Rotterdam


über Paramaribo bis in den Amazonas-Regenwald. Über vier Kontinente und fünf Jahrhunderte erstreckt sich „Jaguarmann“ schließlich. De Jong erzählt, wieviel er recherchiert hat, in der


ehemals niederländischen Kolonie Surinam, in Brasilien, Rom oder New York. Aber auch in Deutschland, im sächsischen Herrnhut, im hiesigen Völkerkundemuseum. Denn von 1735 begannen Missionare


aus Herrnhut in Surinam das Christentum zu verkünden, zunächst bei indianischen Völkern wie Arawak und Karaiben, später unter der afroamerikanischen Sklavenbevölkerung, den sogenannten


Kreolen. „Am Ende des Tages habe ich gar nicht so viel über die Niederlande und das Herkunftsland meines Vaters gelernt, über Schwarz und Weiß, sondern über Menschlichkeit und Humanismus.


Und über Freiheit, darüber, wie Menschen diese Freiheit genommen wurde und sie trotzdem versuchten, sich ein Stück davon zu bewahren.“ Und ja, er fühle sich mit seiner postkolonialen


Spurensuche auch als Repräsentant eines Teils der Bevölkerung, der in der niederländischen Literatur eine viel zu kleine Rolle bislang spiele. Es sind noch einige andere Autoren und


Autorinnen an diesem Frühlingsvormittag ins Goethe-Institut gekommen, zum Beispiel Jaap Robben, Gijs Wilbrink oder Mariken Heitmann. Viele von ihnen, die dieser Tage in Leipzig sind, eint,


dass sie mit ihren fast durchweg realistisch erzählten Büchern eine Botschaft senden wollen, sie explizit gesellschaftspolitische Stoffe auf ihre literarische Agenda gesetzt haben:


Migration, Klimawandel, Kolonialismus, Geschlechteridentitäten. Engagement geht erstmal vor Ästhetik. Auch für Gaea Schoeters. Einen Tag später stellt sie in Antwerpen mit ihrer flämischen


Kollegin Annelies Verbeke das Autorinnenkollektiv Fixdit vor. Dieses hat gerade mit „Optimistic Anger“ ein Manifest veröffentlicht und diskutiert darin Geschlechterungleichheiten- und


Vorurteile im Literaturbetrieb, die fehlende Kanonisierung von Schriftstellerinnen und die Frage, ob es wirklich so etwas wie ein „weibliches Schreiben“ gibt. Connie Palmen hat es in einem


ihrer Essays anders auf den Punkt gebracht. Beim Schreiben transformiere man sich und andere zu Figuren, „es ist ein Akt der Rebellion.“