Abgehört: die wichtigsten cds der woche

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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? Ja,


Panik - "DMD KIU LIDT" _(Staatsakt/Rough Trade, 15. April)_ Achteinhalb Minuten Stille, damit endet das vierte Album der inzwischen in Berlin ansässigen Österreicher Ja, Panik, für


das man wohl noch Wochen brauchen wird, um es in seiner ganzen Komplexität, seinem Wirbeln von Zeichen, Zitaten, Narreteien und Pamphleten zu begreifen. Dennoch sei hier schon einmal


gesagt: Ein besseres, beängstigenderes, ja, bedeutsameres deutschsprachiges Album wird es dieses Jahr kaum noch geben (wobei als Einschränkung gelten muss, dass Sänger und Texter Andreas


Spechtl auch hier wieder Deutsch und Englisch zu seiner universellen Popmusiksprache vermengt.) DMD KIU LIDT, dieser ominöse Code, um den im Vorwege der Veröffentlichung so viel (durchaus


werbeträchtiges) Gewese gemacht wurde, bedeutet: "Die Manifestation des Kapitalismus in unserem Leben ist die Traurigkeit". Nach schroffen Attacken auf die erzböse Liaison von


Penis und Kapital, nach dem Erreichen der Angst als Vorstufe zur großen katharthischen Panik, ist die Band nicht nur in der Großstadt Berlin, sondern auch bei der Melancholie angekommen.


Nennen wir es ein Nebengleis in diesem irgendwie linksradikalen Kosmos von Ja, Panik, der mit allerlei Diskursen und Thesen gefüllt ist, darunter auch die des Situationisten Guy Debord.


Spechtl leitet daraus eine popkulturelle Paranoia ab: Popmusik diene nur dazu, uns vorzugaukeln, unsere Probleme hätten nur mit uns selbst zu tun, nicht mit dem System. "Du siehst, im


Großen und Ganzen ist alles beim Alten/ Nur, dass ich finde, es wär' an der Zeit, aufzuhören/ Das bisschen Klimbim, das bisschen Lalala für so wichtig zu halten/ Gilt es doch nach wie


vor, eine Welt zu zerstören", sind Zeilen aus dem 13 Minuten langen Schluss- und Titelstück, das mit der Gesangsmelodie der Vergewaltiger-Hymne "Jeanny" von Spechtls Idol


Falco spielt - und das die gut 50 Minuten Songmaterial vorher zu verhöhnen scheint. Schöne, musikalisch aufs Wesentliche reduzierte Lieder gibt es da, die mal Bob Dylan, mal die Rolling


Stones, mal Velvet Underground evozieren. Produzent Moses Schneider hatte, so heißt es, "Wummsverbot". Allein die konsequent englischen Songtitel machen ein ganzes Fass


popgeschichtlicher Klassiker auf: "Nevermind", "Time Is On My Side", "Surrender", "Suicide"... das ist scheinbar vertrautes Terrain für eine Band, der


man in den sechs Jahren ihres Bestehens immer wieder unterstellt hat, sie würde sich gar zu dreist bei Vorbildern wie Tocotronic oder Blumfeld bedienen. Doch diese ganze Exposition aus 14


Songs dient nur als Verwirrspiel. Am Ende, mit "DMD KIU LIDT", wird jedes Mikadostäbchen der Deutung und Verortung lustvoll vom Tisch gefegt, bis als logische Folge nur die Stille


bleiben kann: Der Song als Mittel des künstlerischen Ausdrucks ist kontaminiert vom System des Geldes, er taugt nicht für die Revolution. _Also tabula rasa_. Das macht schon mal neugierig


auf ein eventuelles nächstes Album. Bis dahin kann man sich an 14 Liedern über die Vereinsamung und Vereinzelung des Individuums erfreuen, die Spechtl durchaus aus seiner Anfangszeit in


Berlin geschöpft haben mag, als der Wiener noch niemanden kannte außer seiner Nachbarin Christiane Rösinger. Und man kann staunen über das Schlussstück, ein politisches Manifest, in dem sich


Spechtl mit Terroristen solidarisiert und ankündigt, im Falle eines Anschlags weder Angela Merkel noch Nicolas Sarkozy eine Träne nachzuweinen, im Gegenteil, er würde den Bombenlegern noch


Schokolade in den Knast schicken. "DMD KIU LIDT" ist mehr als das Erkennen der Kapitulation, mehr als ein Testament der Angst. Dieses Album ist die Kampfansage einer Band, die ihr


immer auch etwas pubertäres Umsichschlagen mit Ideologien und großen Worten fürs erste beendet hat, sich besonnen hat. Bei Ja, Panik ging es schon immer um etwas Elementares. Und mit der


Traurigkeit kommt jetzt auch der Ernst ins Spiel._ (10) Andreas Borcholte_ Panda Bear - "Tomboy" _(Paw Tracks/Indigo, 15. April) _ Vielleicht ist eine gute Plattensammlung ja doch


eine Plattensammlung, in der Earth neben Sheena Easton und Tracey Ullman neben Urfaust steht. Und irgendwo in der Mitte: Noah Benjamin Lennox aka Panda Bear, ewig festes Mitglied von Animal


Collective, Seher, Erneuerer, Visionär und Erschaffer der sensationellen LP "Person Pitch", die vor nun genau vier Jahren mit sämtlichen Hörgewohnheiten brach. Nachdem die


schottische Band Glasvegas uns in diesem Monat mit einem beispiellos jammerlappig-zerjaulten Album peinigte, dessen unsagbare Scheußlichkeit man nur mit der chinesichen Wasserfolter


vergleichen kann, dürsten wir wieder nach guter Musik. War "Person Pitch" noch ein einziger langer Bewusstseinsstrom, dessen Phantastik alle Grenzen exzentrischer Formen


überschritt, funktionieren die elf Tracks auf "Tomboy" vor allem auch einzeln und für sich allein: Im Titelsong glaubt man, den Ameisenchor aus Hiroshi Saitos "Biene


Maja" zu Hören, "Slow Motion" stellt das Prinzip der Wiederholung in einen neuen, aufregenden Kontext - und "Afterburner" ist der zerschossene, dämmrige Dance-Track


aus den Sümpfen, den außer Panda Bear kaum noch jemand beherrscht. "I got tired of the severe parameters of using samplers. Thinking about Nirvana and The White Stripes got me into the


idea of doing something with a heavy focus on guitar and rhythm", sagt Lennox, wohlwissend, dass der konservative Rock-Hörer sich fragen wird, wo denn im herrlichen Meeresrauschen von


"Benfica" wohl Jack White versteckt ist, wozu die vielen Geräusche, der Hall, die Keyboards, die Idiosynkrasien, Albernheiten und Spukschloss-Synthies eigentlich gut sein sollen-


und wieso sich andere in die glatte Landschaft von Noahs Gesicht tiefer eingraben können als in Keith Richards Furchen_. _ _Cosmic American Music_._ (8) Jan Wigger_ TV On The Radio -


"Nine Types Of Light" _(Interscope/Universal, 15. April)_ Man fragt sich ja öfter mal, wie denn amerikanische Rockmusik im 21. Jahrhundert eigentlich klingt, wenn man mal alle


Traditionalisten und Retrospektivierer inklusive Arcade Fire außen vor lässt. Neben Animal Collective und vielleicht noch Battles bleiben dann eigentlich nur TV On The Radio als Vertreter


eines tatsächlich zeitgemäßen Rocksounds übrig. Die Brooklyner Band um das dreiköpfige Kreativzentrum Tunde Adebimpe (Gesang), Kyp Malone (Gitarren) und Dave Sitek (Produktion und digitale


Spielereien) hat wohl wie keine andere das Lebensgefühl des letzten Jahrzehnts zwischen Terror, Wirtschaftskrise und Apple/Google/Facebook-Revolution mit schroffen, experimentellen,


aggressiven, groovenden, sperrigen, gesellschaftlich engagierten Songs und Texten abgebildet. Zeit, mal eine Verschnaufpause einzulegen, mögen sich die in zahlreichen Nebenprojekten


beschäftigten TOTRs gedacht haben. Denn das aktuelle fünfte Album "Nine Types Of Light" zeigt mit geradezu traditionellen Liebesliedern zumindest in der ersten Hälfte, dass auch


bei den zornigen New Yorkern so langsam der Wunsch nach Familie, Harmonie und Ordnung stärker wird. So landet die Band nach dem hochfliegenden Science-Fiction-Funkrock des Vorgängers


"Dear Science" erstmal wieder auf dem Boden der ewigen emotionalen Tatsachen: "I'm gonna keep your heart/ If the world falls apart/ I'm gonna keep your heart",


raspelt Adebimpe in "Keep Your Heart", und "Will Do", die Single, ist ein Schmachter, wie man ihn von dieser intellektuell-radikalen Gruppe wohl noch nie gehört hat. Aber


es geht natürlich auch hier nicht nur um Gefühle, sondern wie immer auch um die weitere Auslotung und Übersetzung von Stilen und Genres in eine neue Zeit. zu hören ist das auf der


Punk-Dekonstruktion "No Future Shock", dem Space-Swamp-Blues "New Cannonball Run" oder dem hektischen "Repetition", das wie eine Reflexion auf die atemlose


Kultur der ständigen Status-Updates, der kontinuierlichen Verwurstung der Vergangenheit zu vermeintlicher Hipness wirkt. Man mag mit der spröden, anti-stadionrockenden Art dieser Band


Probleme haben, aber man kommt nicht an ihr vorbei. Rock für melancholische Replikanten. _(8) Andreas Borcholte_ Yuck - "Yuck" _(Pharmacy Records/Cooperative Music, 22. April)_ Das


vom äußerst sinnfällig betitelten Label Pharmacy Records zur Verfügung gestellte Debüt-Album der Band Yuck warf beim ersten Hören lediglich zwei Fragen auf: Wie konnte es passieren, dass


eine so amerikanisch klingende Band in London wohnt? Und auf welchen der gar nicht versunkenen Heroen des bei jüngeren Leuten erstaunlich unbekannten US-Indie-Rocks der alten Tage berufen


sich Yuck? Auf Black Francis, Lou Barlow ("Holing Out") und J Mascis (der weißhaarig durch das triumphale "Get Away" geistert) kommt man sofort, auch Evan Dando, der die


Spur für "Suicide Policeman" legte, scheint für Yuck eine Art Säulenheiliger der Ostküste zu sein, dem man während der 49 "Yuck"-Minuten des öfteren begegnet. Wer


"You're Living All Over Me", "Dirty", Surfer Rosa" und "Bakesale" liebte, kann mit dieser Bande von grüblerischen Enthusiasten keinen Fehler begehen.


Die "Operation", die Daniel Blumberg in der Mitte der Platte besingt, ist ein Eingriff am offenen Herzen: Wer damals für die Nörgler und Ausgestoßenen blutete, der tut es heute


wieder. _(7) Jan Wigger_ _ _ ------------------------- _ _ WERTUNG: Von "0" (absolutes Desaster) bis "10" (absoluter Klassiker)