„Die tieferen Gründe“: Leitartikel des Tagesspiegel-Gründers Erik Reger vom 4. Juni 1946

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Es gibt indessen für diese Entwicklung noch einige tiefere Gründe. Nicht, daß nach Jahresfrist noch kein Entwurf zu einem Friedensvertrag vorgelegt werden kann, ist so verhängnisvoll, wie


Herr Adenauer meint, sondern daß, weil in diesem Jahre Deutschland mit einer so beklemmenden Deutlichkeit der Schlüssel zu Europa wurde, wir Deutschen uns schon wieder als die wichtigsten


Leute der Welt vorkommen und in den dafür nur allzu empfänglichen Seelen der Eindruck entsteht, dieses Land, besiegt oder siegreich, werde stets ein Machtfaktor ersten Ranges sein. Die


falschen Schlüsse aus diesem .Eindruck verführen die Parteipolitiker dazu, als Ersatz für das innere Feld, auf dem sie noch nicht genug, vor allem so gar nichts Populäres, zu tun finden, das


äußere zu wählen und sich als Diplomaten ohne Auftrag zu betätigen, Zwar berufen sie sich zu ihrer Rechtfertigung auf einen unverbrieften Auftrag, den sie gern mit den Worten umschreiben:


„Das Volk erwartet von uns, daß wir unsere Stimme erheben.“ Den unbequemen Gedanken, daß es genau umgekehrt sein müßte, daß sie etwas vom Volke zu erwarten, an das eigene Volk Forderungen zu


richten haben, bewahren sie in ihrem Busen. Aber auch hier gilt, was nicht zu beachten sie den Okkupationsmächten vorwerfen: was man von der Minute ausgeschlagen, gibt keine Ewigkeit


zurück. Daß die Parteiführer nicht Gelegenheit nehmen, dem Volke vor Augen zu halten, in welchem Maße sich der Nürnberger Prozeß zu einer historischen Dokumentation entwickelt hat und welche


Folgerungen sich aus den vernichtenden Erkenntnissen ergeben, daß sie es nicht vermögen, ihm die Erholung aus den Verwirrungen der Niederlage gerade durch die Härte der Lehre darzustellen,


daß es ihnen nicht geglückt ist, ein leidenschaftliches Begehren nach Bestrafung der Schuldigen, nach Aechtung der großen und kleinen „Führerbefehlsausführer“, nach Atomzertrümmerung jeder


militärischen Regung zu erwecken und ihre Streitbarkeit und Unerschrockenheit nach dieser Richtung landauf, landab zu bewähren — darin besteht ihr geschichtliches Versäumnis, dies ist der


Grund, wenn, wie Herr Adenauer behauptet, der Nationalsozialismus nicht tot ist, dagegen, gegen unsere eigenen Fehler, und nicht gegen die der Alliierten, wendet sich in Wirklichkeit das


„J’accuse“, dem Adenauer eine glücklichere Beredsamkeit widmen sollte. Wir brauchen Parteiführer, die sich nicht hinreißen lassen, ihren Ehrgeiz in abgegriffenen Scheidemünzen statt in


Medaillen von scharfem Gepräge zu suchen, und Statistiker der Stimmungen statt Politiker des Grundsatzes zu sein.