Sachsen: taktisch wählen wird die afd nicht stoppen (kommentar)

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BEITRAG WURDE AM 17.07.2019 AUF BENTO.DE VERÖFFENTLICHT. In den vergangenen Tagen wurde über das Wählen oft geredet wie über das Kartenspiel "Uno": Wer nicht will, dass die Anderen


gewinnen, muss eben taktieren, die Farben kombinieren und im richtigen Moment spielen, ganz egal, ob man rot lieber mag als gelb oder nicht.  SO SCHEINT ES AUCH BEI DER LANDTAGSWAHL IN


SACHSEN ZU SEIN. IM BEVÖLKERUNGSREICHSTEN OSTDEUTSCHEN BUNDESLAND KÖNNTE DIE AFD ANFANG SEPTEMBER STÄRKSTE KRAFT WERDEN.  Und so womöglich in die Regierung kommen.  Die überparteiliche


Initiative "Zukunft Sachsen" will das verhindern – und wirbt deshalb mit Uno-artigen Karten auf ihrer Kampagnenseite  fürs taktische Wählen. Seit Monaten argumentiert Sascha


Kodytek, der 23-jährige Initiator der Initiative, deshalb dafür, bewusst nur für CDU, SPD oder Grüne zu stimmen. Nur so sei eine stabile Koalition ohne AfD möglich, meint er. Auch in


Brandenburg und Thüringen gibt es ähnliche Überlegungen, auch stehen im Herbst Wahlen an, bei denen die Rechtspopulisten stark werden dürften. Sascha will verhindern, dass in Sachsen die AfD


an die Macht kommt – mit diesem konkreten Plan Die klare Mission ist gleichzeitig jedoch auch die Achillesferse der Taktiererinnen und Taktierer: Außer "Nicht die AfD" hält die


Bewegung inhaltlich wenig zusammen. Dieses Schicksal teilt "Zukunft Sachsen" mit vielen Aufrufen zum kalkulierten Wählen. Das mag vertretbar sein, wenn bei Stichwahlen und zweiten


Wahlgängen nur noch CDU und AfD eine Chance haben, wie kürzlich in Görlitz (SPIEGEL).  BEI DER LANDTAGSWAHL IN SACHSEN TRETEN ALLERDINGS 19 PARTEIEN AN, FÜNF FRAKTIONEN SITZEN BEREITS IM


PARLAMENT. SOLLEN JETZT ALLE NUR NOCH GEGEN DIE AFD WAHLKAMPF MACHEN? DIE VORSTELLUNG IST ABSURD.  Während Talkshows und Titelseiten regelmäßig dafür kritisiert werden, fast nur noch die


Themen der AfD aufzugreifen, sieht die Kampagne von "Zukunft Sachsen" genau darin ihren Auftrag. Radwege, Kitas und sichere Arbeitsplätze scheinen keine Rolle mehr zu spielen –


dieses Mal geht es nur noch darum, die AfD zu verhindern. So vermittelt es die Kampagne.  Diese Endzeit-Stimmung und das "Wir gegen die" dürfte den Rechtspopulisten gefallen. Nicht


nur in Sachsen. Kaum etwas macht es ihnen leichter, angebliche "Altparteien" und das vermeintliche "Parteienkartell" im Straßenwahlkampf zu attackieren: Schaut her,


denen geht es längst gar nicht mehr um Inhalte, sondern nur noch darum, uns zu verhindern. Tatsächlich ist dieser Vorwurf nicht ganz von der Hand zu weisen.  Es ist aber auch für die


AfD-Gegner ein fragwürdiges Gedankenspiel. Denn das Wir-gegen-die entlässt eben auch die sogenannte Mitte aus ihrer Verantwortung. Dort die Rechtspopulisten, hier die Demokraten. Dabei sind


die Trennlinien längst nicht so klar, wie es die Anhängerinnen und Anhänger des taktischen Wählens gerne hätten.  Wie die Wahlen im Osten am Ende wirklich ausgehen, lässt sich gegenwärtig


kaum vorhersagen. Dass Stimmen für bestimmte Parteien wie FDP und Linke eine AfD-Koalition begünstigen könnten, ist deshalb ein mehr als fragwürdiger Vorwurf. Die Vorstellung, dass es so


einfach sei, ist trügerisch.  WAS IST, WENN DIE CDU IN SACHSEN UND BRANDENBURG AM ENDE KEINE RECHTSKOALITION BILDET UND DENNOCH PUNKTUELL MIT DER AFD STIMMEN SOLLTE?  In Sachsen-Anhalt ist


das bereits passiert. Seitdem gibt es eine AfD-geführte Enquete-Kommission "Linksextremismus" – übrigens trotz regierender Anti-AfD-Koalition aus CDU, SPD und Grünen.  Das


"Wir gegen die" der Wahltaktiker ist aber auch inhaltlich trügerisch: Tatsächlich sind Rassismus, der Wunsch nach Abschottung und die Neigung zu Verschwörungen längst in der Breite


der Gesellschaft angekommen und nicht nur auf eine Partei begrenzt. Untersuchungen wie die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung (bento) zeigen seit Jahren, wie groß die Ressentiments


gegen bestimmte Gruppen sind. Übrigens auch bei jungen Menschen. Dass "Zukunft Sachsen" jetzt dazu aufruft, ausgerechnet die sächsische CDU gegen den Rechtspopulismus zu wählen,


wirkt deshalb seltsam. Wohl kaum ein anderer Landesverband hat sich in den vergangenen Jahren so schwer damit getan, sich klar vom Gedankengut der AfD abzugrenzen wie der sächsische.  Das


aktuelle CDU-Wahlprogramm wurde unter anderem von Werner Patzelt geschrieben, der als Politikwissenschaftler in der Vergangenheit selbst mehrfach auf AfD-Veranstaltungen auftrat. Auch der


frühere Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen, der nach den Ausschreitungen in Chemnitz "Hetzjagden" leugnete und zuletzt Schweizer Medien als "Westfernsehen"


bezeichnete , soll der sächsischen CDU im Wahlkampf helfen.  Längst nicht alle in der sächsischen Union ticken so. Doch die beiden Personalien zeigen, dass man die AfD nicht bekämpfen kann,


ohne über Inhalte zu reden. Das Hauptsache-die-AfD-verhindern ist in Wahrheit kein Lösungsansatz, sondern eine Bankrotterklärung für die politische Kultur. Wie will man so beim nächsten Mal


verhindern, dass die AfD in die Regierung gewählt wird?  WAHLEN LASSEN SICH NICHT ENDLOS IM AUSNAHMEMODUS DURCHFÜHREN.  Sie sollten dafür da sein, die eigene Überzeugung auszudrücken:


Zustimmung für bestimmte Kandidierende und Parteien, den Wunsch nach Veränderung oder Fortsetzung. Folgt man den Taktierern, gibt es vermutlich immer etwas, das wichtiger ist als die eigene


Meinung. Das ist irrwitzig und im Kern unpolitisch. Vor allem aber keine Lösung. Rechtsradikalismus ist auch abseits des Wahltags eine Gefahr. Man kann sie nicht wegtaktieren. Wer wirklich


die Demokratie stärken will, sollte deshalb lieber über Inhalte reden, die Unterschiede aufzeigen und wählen, was ihn oder sie überzeugt. Denn im Gegensatz zum Kartenspiel kann man in der


Wahlkabine nicht abschätzen, was die Anderen auf der Hand haben und wie sie damit taktieren. Umfragen sind Momentaufnahmen, keine Selbstverpflichtung. Und "Uno" ist keine Antwort


auf faschistische Fantasien.