Angela merkel zum mauerfall: "in westdeutschland lebten nicht nur mutbolzen"

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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? 30 Jahre


nach dem Mauerfall regiert Angela Merkel als Bundeskanzlerin in ihrer vierten Amtszeit. Sollte die CDU-Politikerin bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 im Amt bleiben, würde sie Helmut


Kohl als am längsten amtierenden Kanzler einholen. Im SPIEGEL-Interview erzählt die 65-Jährige von der Bedeutung, die der 9. November 1989 und die Folgen für ihr Leben hatten. Über das


Engagement im "Demokratischen Aufbruch" wurde sie nach der ersten freien Volkskammerwahl im März 1990 stellvertretende DDR-Regierungssprecherin, später CDU-Mitglied. Nach der


Wiedervereinigung kandidierte Merkel 1990 erfolgreich für den Bundestag, im Kabinett ihres Parteifreunds Kohl wurde sie Frauenministerin. Was aus ihr geworden wäre, wenn die DDR dieser Tage


ihr 70-jähriges Bestehen feierte? "Ich hätte immerhin schon meinen Traum verwirklichen können", sagt Merkel. "In der DDR gingen die Frauen mit 60 in Rente, ich hätte mir also


schon vor fünf Jahren meinen Reisepass abgeholt und wäre nach Amerika gereist." DDR-Rentner genossen Reisefreiheit. Die Kanzlerin zieht 30 Jahre nach dem Mauerfall eine Art Bilanz der


innerdeutschen Beziehungen. Sie spricht über politische Fehler und die Defizite im Dialog zwischen Ost und West, kritisiert die Debatte über Meinungsfreiheit, wünscht sich stattdessen mehr


Mut. Über den Aufstieg der AfD in ihrer Amtszeit sagt Merkel: "Wir leben in Freiheit, die Menschen können sich entsprechend äußern und wählen." Vor einer Annäherung der CDU an die


Linkspartei warnt sie. SPIEGEL: Deutschland feiert 30 Jahre Mauerfall. Angenommen, die Mauer wäre nicht gefallen, und die DDR würde dieser Tage ihr 70-jähriges Bestehen feiern - was wäre


wohl aus Ihnen geworden? MERKEL: Wir wären uns jedenfalls nicht begegnet, das steht fest. SPIEGEL: Und was würden Sie heute tun? MERKEL: Ich hätte immerhin schon meinen Traum verwirklichen


können: In der DDR gingen die Frauen mit 60 in Rente, ich hätte mir also schon vor fünf Jahren meinen Reisepass abgeholt und wäre nach Amerika gereist. Rentner hatten ja Reisefreiheit in der


DDR - wer als sozialistischer Erwerbstätiger nicht mehr gebraucht wurde, durfte raus. SPIEGEL: Die USA waren Ihr Sehnsuchtsland? MERKEL: Natürlich hätte ich mir auch die Bundesrepublik


richtig angeschaut. Aber meine erste weite Reise wollte ich nach Amerika machen. Wegen der Größe, der Vielfalt, der Kultur. Die Rocky Mountains sehen, mit dem Auto herumfahren und Bruce


Springsteen hören - das war mein Traum. SPIEGEL: In einem amerikanischen Straßenkreuzer? MERKEL: Nein. Ich bin ja ein Freund kleinerer Autos. Aber was Besseres als ein Trabant hätte es schon


sein sollen. SPIEGEL: Sie haben schon zu früheren Mauerfall-Jubiläen beklagt, dass Ihnen so vieles aus Ihrem Leben in der DDR und den Tagen von 1989/1990 "nicht mehr einfällt".


Was sagt das aus über den Umgang der ehemaligen DDR-Bürger mit ihrer Geschichte? MERKEL: Manches würde mir schon wieder einfallen, wenn ich länger drüber nachdächte. Aber es ist eben so,


dass man sich als DDR-Bürger nach dem Mauerfall auf vieles neu einstellen musste. Wir mussten neu denken und manche Fertigkeit, die wir in der DDR hatten, war im wiedervereinigten


Deutschland nicht mehr so wichtig. Manches Alte wurde von dem neuen Leben überschrieben. Jetzt, 30 Jahre später, denken offenbar viele wieder darüber nach und Erinnerungen kommen hoch.


SPIEGEL: Und jeder erinnert sich anders - manche wirken dabei sogar richtig nostalgisch. MERKEL: Natürlich ist der Blick auf das Leben in der DDR auch davon abhängig, wo jeder von uns heute


als Ostdeutscher steht. Grundsätzlich gibt es beim Blick auf die DDR eines, was viele Westdeutsche so schwer verstehen: dass es auch in einer Diktatur gelungenes Leben geben konnte. Dass wir


also Freunde und Familien hatten, mit denen wir trotz des Staates Geburtstage und Weihnachten feierten oder Traurigkeit teilten, natürlich immer in einer gewissen Wachsamkeit vor dem Staat.


Aber dass wir nicht nach Amerika reisen konnten, sondern nur nach Ungarn und Bulgarien, hat nicht jeden Tag bestimmt. Weil diese Seite unseres persönlichen Lebens in der DDR von vielen


Westdeutschen nicht wahrgenommen oder sogar ignoriert wird, entsteht in der Reaktion mancher Ostdeutsche heute darauf mitunter eine Art Romantisierung, nach dem Motto: Unser Leben in der DDR


kann uns niemand nehmen. SPIEGEL: Entsprechend gering scheint mitunter die Feierstimmung mit Blick auf den Mauerfall zu sein. Warum sollte man auch feiern, wenn mit der AfD bei drei


ostdeutschen Landtagswahlen eine fremdenfeindliche, in Teilen faschistische Partei zu den stärksten Kräften gehört? MERKEL: Für mich ist und bleibt der 9. November 1989 ein Glücksmoment in


der deutschen Geschichte. So viele Menschen in der DDR hatten zwischen 1949 und 1989 von der Freiheit geträumt - und plötzlich konnten wir öffentlich darüber sprechen! Wir konnten unsere


Stimme erheben. Und auch heute kann jeder seine Stimme erheben. Ich weiß, dass für Ostdeutsche einer bestimmten Generation das Leben mit der friedlichen Revolution zwar frei, aber nicht


immer einfacher geworden ist; ich weiß auch, dass es neben den erfolgreichen Regionen auch solche gibt, in denen die Dörfer sich leeren, weil die Kinder und Enkel weggezogen sind. Dennoch


muss man heute, 30 Jahre später, auch klar sagen: Auch wenn man mit dem öffentlichen Nahverkehr, der ärztlichen Versorgung, dem staatlichen Handeln insgesamt oder dem eigenen Leben nicht


zufrieden ist, folgt daraus kein Recht auf Hass und Verachtung für andere Menschen oder gar Gewalt. Gegenüber solchem Verhalten kann es keine Toleranz geben. SPIEGEL: Es gibt frühere


DDR-Bürger, die die heutigen politischen Verhältnisse mit der Zeit vor 1989 vergleichen. Was ist da passiert? MERKEL: Das weiß ich nicht. Was aus meiner Sicht gar nicht geht: Wenn Menschen


mit westdeutscher Biografie in den Osten gehen und da behaupten, unser Staat sei ja eigentlich nicht viel besser als die DDR. Da muss man hart dagegenhalten. Fotostrecke Angela Merkels


Karriere: Von der Uckermark ins Kanzleramt Foto: Bogumil Jeziorski/ AFP SPIEGEL: Es sind auch ehemalige Bürgerrechtler wie Vera Lengsfeld, die so reden. Und es kann vorkommen, dass einer,


der in der DDR wegen Wehrdienstverweigerung im Gefängnis saß, erzählt, er sei froh, wenigstens seine Tochter aus dem heutigen Deutschland gerettet zu haben - sie lebe nun in den USA. Macht


Sie das wütend? MERKEL: Das ist nicht meine Betrachtungsweise. SPIEGEL: Viele Ostdeutsche sind enttäuscht von Ihnen, das drückt sich häufig in der Wahl der AfD aus. Sind Sie von diesen


Ostdeutschen auch enttäuscht? MERKEL: Nein. Ich sehe meine Aufgabe darin, meine Arbeit für alle Menschen in Deutschland zu tun. SPIEGEL: Aber ist es nicht bitter, dass in Ihrer Amtszeit die


AfD gerade in Ostdeutschland so stark geworden ist? MERKEL: Wir leben in Freiheit, die Menschen können sich entsprechend äußern und wählen. Ich war ja zu Beginn meiner politischen Karriere


gleich vierfach Minderheit in der CDU: jung, weiblich, protestantisch und ostdeutsch. Inzwischen bin ich seit 14 Jahren die Bundeskanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und habe damit


allen Menschen in Deutschland zu dienen. Die Annahme, ich sollte mich vornehmlich um die Anliegen der Ostdeutschen kümmern, ist also falsch - aber wenn man ihr folgt, führt sie natürlich zu


Enttäuschungen. Was jedoch auch ich vermisse, ist ein besseres innerdeutsches Gespräch. SPIEGEL: Wie meinen Sie das? MERKEL: Die unterschiedlichen Lebenserfahrungen in Ost und West sind eine


Tatsache. Darüber sollen wir mehr sprechen und uns mehr bemühen, einander zu verstehen. SPIEGEL: Sie waren 35, als die Mauer fiel. Wenn Sie mit dem Wissen über die Nachwende-Zeit die


Wiedervereinigung mitgestalten könnten: Was würden Sie anders machen? MERKEL: Es ging ja rasend schnell damals. Und natürlich sind Fehler passiert. SPIEGEL: Zum Beispiel? MERKEL: Günther


Krause (_1991 bis 1993 Verkehrsminister von der CDU und Ostdeutscher/Anm. d. Red_.) zum Beispiel musste einmal schon sehr laut werden, bis Klaus Kinkel (_1991/1992 Justizminister von der FDP


und Westdeutscher/Anm. d. Red_.) sich mit ihm in Gummistiefeln die komplizierten Eigentumsverhältnisse vor Ort anschaute. Da war was los. Klaus Kinkel - damit da kein Missverständnis


entsteht - habe ich sehr geschätzt. Dennoch zeigt diese Geschichte ein Problem der Anfangszeit. Grundsätzlich hätte ich mir damals mehr Neugierde und Interesse der westdeutschen Politiker


gewünscht. Als ich stellvertretende Sprecherin der letzten DDR-Regierung war, wollte der damalige Ministerpräsident Lothar de Maizière zum Beispiel unbedingt noch mal eine Reise zu den


Alliierten machen. Bundeskanzler Helmut Kohl verstand das überhaupt nicht; er sagte, es gebe doch im Land genug zu tun, die Einheit komme sowieso. Aber uns war das wichtig. SPIEGEL: Ist die


Leistung der Ostdeutschen auf dem Weg zum Mauerfall zu wenig gewürdigt worden? MERKEL: Die deutsche Einheit ist von Ost und West gemeinsam gestaltet worden, und Helmut Kohls politisches


Geschick und das Vertrauen, das er bei den Alliierten genoss, haben da eine große Rolle gespielt. Aber die friedliche Revolution und der 9. November 1989 waren das Werk der DDR-Bürger. Davon


geben wir gerne was ab, auch die Freude, aber geschafft haben das die DDR-Bürger mit einer ganzen Menge Mut. Und da ich weiß, dass in Westdeutschland damals nicht nur Mutbolzen lebten - ich


erinnere mich, wie es manchen schon zu viel wurde, wenn sie mal für uns ein Buch über die Grenze schmuggeln sollten - könnte man das sicher mehr würdigen. SPIEGEL: Im Moment wird viel über


die Meinungsfreiheit und ihre Grenzen debattiert. Hat das auch damit zu tun, dass man in Ostdeutschland unterschätzt hat, wie anstrengend ein Leben in Freiheit auch sein kann? MERKEL: Vaclav


Havel hat sehr schön darüber geschrieben, dass Eltern ihre Kinder zum Leben in Freiheit erziehen müssen. Das konnte nun in der DDR naturgemäß kaum stattfinden. Klar, dass da also eine Menge


Nachholbedarf war und ist - auch mit Blick auf die Meinungsfreiheit. Ansonsten bin ich der Meinung, dass wir auch keine Zuspruchsgesellschaft werden dürfen. Meinungsfreiheit heißt nicht


Widerspruchsverbot. SPIEGEL: Sie sehen die Meinungsfreiheit also nicht in Gefahr? MERKEL: Nein. Natürlich muss zum Beispiel der AfD-Gründer Bernd Lucke eine Vorlesung an der Universität


Hamburg halten können, das muss der Staat notfalls durchsetzen. Aber die Debatte läuft ja so, dass ein sogenannter Mainstream definiert wird, der angeblich der Meinungsfreiheit Grenzen


setzt. Doch das stimmt einfach nicht. Man muss damit rechnen, Gegenwind und gepfefferte Gegenargumente zu bekommen. Meinungsfreiheit schließt Widerspruchsfreiheit ein. Ich ermuntere jeden,


seine oder ihre Meinung zu sagen, Nachfragen muss man dann aber auch aushalten. Und gegebenenfalls sogar einen sogenannten Shitstorm. Ich habe das ja auch schon erlebt. Das gehört zur


Demokratie dazu. In der alten Bundesrepublik gab es seinerzeit noch ganz andere Debatten, beispielsweise Ende der Sechzigerjahre, wenn ich richtig informiert bin. SPIEGEL: 30 Jahre nach dem


Mauerfall diskutiert Ihre Partei darüber, ob man in Thüringen mit der Linken als SED-Nachfolgepartei politische Gespräche führen darf. Warum tut sie sich so schwer damit? MERKEL: Die CDU tut


sich zu Recht schwer damit. Auch wenn Ministerpräsident Bodo Ramelow aus dem Westen kommt und Christ ist und sich möglichst wenig mit seiner Partei gemein macht, ist er doch ein Politiker


der Linken und damit ihrem Programm verhaftet. Eine ehrliche Aufarbeitung ihrer Geschichte in der DDR hat die Linke bis heute nicht geliefert, gleichzeitig ist sie programmatisch Welten von


dem entfernt, wofür die CDU steht. Deshalb gibt es ja eine Beschlusslage, wonach die CDU mit der Linkspartei nicht zusammenarbeitet. Dass Thüringens CDU-Vorsitzender Mike Mohring mit


Ministerpräsident Ramelow sprechen will, wenn dieser das möchte, finde ich dagegen völlig ok - und hat mit einer Koalition nichts zu tun. SPIEGEL: Damit gehen Sie schon weiter als viele


Ihrer Parteifreunde, denen schon Gespräche mit Ramelow als politischer Sündenfall gelten. MERKEL: Herr Ramelow hat das Problem, keine Mehrheit mehr zu haben. Nun geht es für ihn darum, ob er


sich eine Mehrheit zu organisieren versucht oder nicht. Und dabei ist mein grundsätzlicher Rat an die CDU: einfach mal abwarten. Vielleicht will er mit uns ja auch gar nicht sprechen. Falls


Herr Ramelow doch das Gespräch mit der CDU sucht, sollte man ihm das nicht verweigern, er ist schließlich der Ministerpräsident, aber mit Koalitionen und Zusammenarbeit hat das nichts zu


tun. SPIEGEL: Außer Ihnen gibt es im Kabinett mit Franziska Giffey nur ein weiteres Kabinettsmitglied aus dem Osten, die Dax-Konzerne werden komplett von Westdeutschen geführt, in fast allen


Bereichen ist das Missverhältnis ähnlich krass. Warum? MERKEL: Mir hat gerade jemand erzählt, dass auch keine deutsche Universität von einem oder einer Ostdeutschen geleitet werde. Das ist


nicht nur seltsam, das ist ein wirkliches Defizit. Wir haben da noch viel Arbeit vor uns. Der Grund mag darin liegen, dass viele 1989/90 schon zu alt waren, mit meinen 35 hätte ich es damals


in der Wirtschaft auch schwer gehabt, die Karriereleiter noch ganz nach oben zu klettern. Wer damals ein Kind war, der kann natürlich noch in Spitzenpositionen ankommen. Man muss halt schon


klar und deutlich und manchmal ein bisschen laut sein, um Karriere zu machen - da kann ich uns Ostdeutsche nur ermuntern. Aber noch einmal: Das ist kein guter Zustand.