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Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde. Fünf alte Smartphones liegen auf dem Schreibtisch in einem Coworking-Space in Dortmund und sollen zeigen, was TikTok sonst eher verbirgt. Die
Geräte haben insgesamt 40 verschiedene Accounts und rufen im steten Wechsel TikTok-Videos ab. Derzeit 150 Videos pro Tag und Account, in den vergangenen zwei Jahren waren es phasenweise
deutlich mehr. Martin Degeling vom Technologie-Thinktank Stiftung Neue Verantwortung hat die Smartphones eingerichtet, um Einblicke in den Empfehlungsalgorithmus der App zu erhalten, in die
Geheimformel von Mutterkonzern ByteDance. DIE MÄCHTIGSTE APP DER WELT 1,6 Milliarden Menschen nutzen TikTok, vor allem junge Leute. Sie lassen sich auf der Plattform unterhalten, sie
informieren sich über Nachrichten und Politik. Doch die App ist auch anfällig für Fake News und Hetze – und sie wird von China wie eine Diktatur kontrolliert. LESEN SIE UNSERE
TITELGESCHICHTE, WEITERE HINTERGRÜNDE UND ANALYSEN IM DIGITALEN SPIEGEL. Zur Ausgabe Der Aufbau ist komplizierter, als es zunächst aussieht. Alle fünf Geräte laufen mit einem speziellen
Betriebssystem, LineageOS, das »einen relativ tiefen Eingriff ins System zulässt«, erklärt Degeling. Rund 772.000 Videos konnte das Team um den promovierten Informatiker und seine Kollegin
Dr. Anna-Katharina Meßmer auf diesem Wege abrufen und analysieren, drei Millionen weitere über die Web-Version von TikTok. Damit das klappt, ohne dass TikTok die Accounts als verdächtig
einstuft, mussten sie ein paar Vorkehrungen treffen. »Am Anfang haben wir viel über WLAN gemacht.« Dann hätten sie festgestellt, dass es TikTok als auffällig registriert, wenn an einem Tag
mehrere Konten im selben WLAN erstellt werden und von derselben IP-Adresse kommen. TikTok sperrt verdächtige Konten nicht immer sofort. Degelings Team entwickelte ein Gespür dafür, ob ein
Account offenbar von TikTok intern markiert wurde. Lässt sich der Nutzername nicht ändern, was eigentlich zu den Grundfunktionen gehört, ist das ein Hinweis. Ein anderer ist Werbung. »Wir
haben gemerkt, dass wir in Accounts, die immer nur über dasselbe WLAN im Netz waren, kaum oder keine Werbung angezeigt bekamen«, sagt Meßmer. Verdächtig ist offenbar auch, wer sein
Smartphone nie unterwegs nutzt. Degeling findet das nachvollziehbar: TikTok wolle verhindern, dass Betrüger Bots nutzen, millionenfach auf Werbung klicken und die Kosten für eine Anzeige in
die Höhe treiben, etwa zum Nachteil eines Konkurrenten. Die Test-Accounts mussten also über mobile Daten ins Netz, um nicht aufzufliegen. 40 Nutzer im selben WLAN fallen möglicherweise auf,
40 Nutzer in derselben Funkzelle eher nicht. Doch aufgrund der im Mobilfunk und der App verwendeten Verschlüsselungs- und Sicherheitsfunktionen war es mobil schwieriger, in den Datenverkehr
zwischen der Anwendung und ihrem Betreiber hineinzusehen. Degeling fand jedoch einen Weg, TikToks Schutzmaßnahmen zu umgehen, und konnte fortan beobachten, was die App an Informationen an
ByteDance übermittelt – erheblich mehr, als TikTok selbst herausrückt. TikTok misst etwa die Verweildauer in einem Video auf die Millisekunde genau. Ist eine Sekunde erreicht, zählt das als
»View«. Sprich: In der heutigen Social-Media-Welt ist eine Sekunde offenbar eine akzeptable Aufmerksamkeitsspanne. Insgesamt sammelt TikTok nach Angaben von Degeling rund 60 Datenpunkte bei
jedem einzelnen Videoaufruf und speichert knapp 600 Datenpunkte über jedes Video. Wer hingegen die von TikTok selbst für externe Forschungsprojekte eingerichtete Schnittstelle anzapft,
bekommt nur ungefähr 30 zu sehen. Degelings Forschungskollegin Anna-Katharina Meßmer sagt: »In dem Moment, wo man etwas über das Empfehlungssystem lernen möchte, versagt die Schnittstelle.«
TikTok hat sich auf eine SPIEGEL-Anfrage nicht dazu geäußert. Die Analyse zeigt auch, wie werbelastig TikTok ist. Ein Fünftel aller im »Für Dich-Feed« auf den Testgeräten angezeigten Inhalte
waren Werbevideos, weitere zehn Prozent »organisches Marketing«, Clips also, in denen Marken oder Produkte vorkommen. 16 Prozent aller »Creator«, wie die Inhaltelieferanten heißen,
verlinkten zudem auf Shops, hatten also ein kommerzielles Interesse. Auffallend ist Degeling zufolge die Dominanz chinesischer Marken wie Shein und Temu, die sich an ähnliche, jüngere
Zielgruppen wenden wie TikTok. Mehr als 5000 der über die Handys abgerufenen 772.000 Videos hatten einen der beiden Markennamen in der Beschreibung. Nur 26 davon waren als Werbung
gekennzeichnet. Die Billiganbieter setzen offenbar darauf, dass TikTok-Nutzer Videos zu den Produkten veröffentlichen und darüber sprechen. Teilen Sie uns Ihre Meinung mit! Einige
Erkenntnisse hat das Team bereits in Blogposts veröffentlicht und daraufhin Veränderungen bei TikTok festgestellt. Das Unternehmen schaut hin, was das deutsche Forschungsteam macht, daran
besteht kein Zweifel. Allein schon, weil die Zugriffe auf das Blog eindeutig aus den Systemen von ByteDance kommen. Außerdem hat TikToks hauseigenes Forschungsteam Kontakt zur Stiftung
aufgenommen und unter anderem um eine Liste von Datenpunkten und Variablen gebeten, die wünschenswert für die Forschungsschnittstelle wären.