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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Ich treffe Papierhändler Johann an einem sonnigen Novembertag vor seinem
Kontorhaus in der historischen Hamburger Deichstraße. Der Kaufmann mit der Lockenmähne und dem Schnurrbart ist gerade von einer Geschäftsreise aus den nördlichen Niederlanden zurückgekehrt.
Da es im Jahr 1686 weder Mobiltelefon noch Internet gibt, ist Händler Johann wochenlang von Nachrichten aus seiner Heimat abgeschnitten gewesen. Noch weiß er nicht, dass sich während seiner
Abwesenheit spektakuläre Dinge ereignet haben. Da Hamburg schon damals eine der führenden Pressestädte des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation war, macht Johann sich auf die Suche
nach Informationen zu den turbulenten Ereignissen – und nimmt mich in der App Hidden Hamburg mit auf seinen Weg zu Marktplätzen, Kirchen, Kaffeehäusern und den Nachrichtenständen vor dem
Opernhaus der Metropole. PILOTSTÄDTE HAMBURG, EXETER, DEVENTER, VALENCIA UND TRENTO Die App ist aus dem Forschungsprojekt mit dem sperrigen Titel »Public Renaissance: Urban Cultures of
Public Space between Early Modern Europe and the Present« entstanden. Ziel ist es, das Alltagsleben in europäischen Städten zwischen 1450 und 1700 sichtbar zu machen. Die mehrsprachigen
Stadtführungen gibt es neben Hamburg zunächst in Exeter, Deventer, Valencia und Trento; weitere Städte sollen hinzukommen. Das Projekt in Hamburg wird mit einer Million Euro gefördert, das
Geld stammt von der Humanities in European Research Area (Hera), einem Netzwerk europäischer Forschungsförderorganisationen. Auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat sich
beteiligt. Fotostrecke Hidden Cities: Geschichte mit Virtual Reality erlebbar machen Foto: "Hidden Hamburg" App / Calvium In Hamburg folge ich dem fiktiven Papierhändler Johann
zunächst durch die Deichstraße mit ihren Kontorhäusern im holländischen Stil zur Nikolaikirche. Dabei muss ich die Willy-Brandt-Straße überqueren, eine der Hauptverkehrsadern der Stadt. Die
sechsspurige Straße, die in den Sechzigerjahren angelegt wurde, trennt die Altstadt vom Hafen. Früher war es sicher einfacher, auf die andere Seite zu kommen. ZEITLOSER GESTANK Wo sich heute
Kolonnen von Lastwagen und Pkw durch die Stadt schieben, gab es damals nur Pferde, Kutschen und Fuhrwerke. Lärm und Gestank hatten sicher eine andere Qualität, sind aber immer noch
allgegenwärtig. Per GPS-Tracking wird mein Standort ermittelt, das macht die App so spannend: »In Hamburg gibt es bis auf wenige Winkel noch weitgehend die alten Straßenverläufe«, sagt
Daniel Bellingradt, Professor für Buchwissenschaft an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er leitet das Forschungsteam für die Hamburg-App. Die Wahl sei auf Hamburg
gefallen, da die Stadt eine der größten und bedeutsamsten Städte in Mitteleuropa im 17. Jahrhundert gewesen sei. Finanzielle Anreize, etwa von der Tourismusbehörde, habe es nicht gegeben:
»Es handelt sich um ein unabhängiges wissenschaftliches Projekt«, betont Bellingradt. Als ich in der Nikolaikirche, seit dem Zweiten Weltkrieg eine markante Ruine, ein Fenster gefunden habe,
beginnt Papierhändler Johann dank der Standortbestimmung wahlweise auf Englisch oder Deutsch mit seiner Audiobotschaft. RATSMITGLIEDER HINGERICHTET Er erzählt mir von den Predigten und den
Zeitungsständen im Gebäude. In der App finde ich, ebenfalls zweisprachig, weiterführende Informationen mit Bildmaterial. Mit einem Klick wechsle ich auf die Website des Projekts unter
Hiddenhamburg.eu . Dort gibt es noch mehr Hintergründe. Ich finde alte Karten und historische Flugschriften, über Links kann ich mir Fotos von alten Wohnhäusern anschauen. Der Spaziergang
führt mich als Nächstes zum Museum für Hamburgische Geschichte in den damaligen Verteidigungsanlagen. Anders als Johann vorschlägt, gehe ich jedoch nicht die zugige Hauptverkehrsstraße,
sondern nutze parallele Wege. Im Museum gäbe es die Möglichkeit, eine Druckerpresse aus dem 17. Jahrhundert zu besichtigen – leider ist das Haus wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Der
Papierhändler will dort seinen Freund, den Drucker Thomas von Wiering, treffen, um mehr über die Ereignisse während seiner Reise zu erfahren. In Hamburg wurden damals die Ratsmitglieder Cord
Jastram und Hieronymus Snitger geköpft und gevierteilt. Man hatte ihnen vorgeworfen, die Stadt an den dänischen König Christian V. zu übergeben. Der Dänenkönig hatte Hamburg im August des
Jahres rund eine Woche lang belagert. Vorausgegangen waren Auseinandersetzungen zwischen Bürgerschaft und Rat der Stadt. Kaiserliche Gesandte hatten mehrfach versucht, die Stadt zu
befrieden. Über die politischen Hintergründe erfahre ich in der App allerdings nicht viel mehr – der Spaziergang zeigt mir stattdessen, welche Informationsquellen Johann auf seiner Jagd nach
Neuigkeiten und Gerüchten nutzte. Bellingradt will damit »Geschichte so gegenwärtig wie möglich machen.« Die Epoche wird oft vernachlässigt – dabei ist die Quellenlage für die
Wissenschaftler vergleichsweise gut. Das Team um Bellingradt nutzte Flugdrucke, Zeitungen und Akten der Stadtverwaltung aus mehreren Hamburger Archiven sowie Museen und Bibliotheken. Neben
dem Staatsarchiv Hamburg stammt das Material für die Tour aus der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky, der Commerzbibliothek der Handelskammer Hamburg und dem
Museum für Hamburgische Geschichte. Mehrere der dortigen Ausstellungsstücke sind auch in der App und auf der Website zu finden. SIEBEN-STATIONEN-RUNDGANG Johann nimmt mich weiter mit zu
Gebäuden wie der Staatsoper, dem ersten deutschsprachigen Opernhaus im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Das Gebäude existiert nicht mehr, mithilfe der App kann ich aber den
ungefähren Standort erahnen. Auch zu damals wie heute stark frequentierten Plätzen, etwa Großneumarkt und dem Kaffeehaus Eimbecksches Haus, führt mich Johann, ohne Shutdown wäre es auch auf
meiner Tour belebter. Ich brauche für meine Reise in Hamburgs Vergangenheit eine knappe Stunde, die Tour umfasst sieben Stationen. Bellingradt will mit der App erreichen, dass die
Stadtgeschichte zu einem doppelten Einblick wird – »in vergangene soziale Lebensformen und in das heutige Verhalten innerhalb urbaner Räume.« Wenig erstaunlich ist, dass die damals
aufkommenden Kaffeehäuser ein beliebter Umschlagplatz für Nachrichten waren. »Die Mediennutzung hat früher genau wie heute funktioniert«, sagt Bellingradt. AUGMENTED-REALITY-ANWENDUNG IN
FLORENZ Was es heute in dieser Form nicht mehr gibt: einen Vorleseservice für Zeitgenossen, die nicht lesen konnten. Dabei wurden gegen einen geringen Preis Nachrichten weitergetragen –
heute lasse ich mir Nachrichten von einer App vorlesen. In den kommenden Jahren solle der Rundgang erweitert werden, die Finanzierung sei bis 2022 gesichert. In einigen der europäischen
Projektstädte, die unter Hiddencities.eu zu finden sind, gibt es bereits mehrere Touren, in Florenz sogar mit Augmented-Reality-Anwendung. Schüler und Studierende können die
Hidden-Cities-App auch für eigene Projekte nutzen. So sollen sie im Unterricht oder Seminar selbst Touren mit historischem Hintergrund ausarbeiten. Der britische Softwareentwickler Calvium
hat für das Team um Bellingradt ein eigenes Content-Management-System entwickelt und es den Forschern zur Verfügung gestellt. Eine künftige Lizenzierung sei vorstellbar. »Schulklassen und
Studierende sollen über den technischen Fokus für Geisteswissenschaften mobilisiert werden«, sagt Bellingradt. Die App soll dabei einen Zugang zur frühen Neuzeit schaffen. Das Verständnis
der Epoche ist bislang vor allem von Dreißigjährigem Krieg und Hexenverfolgung geprägt, Hidden Hamburg zeigt dagegen das Leben normaler Menschen. Das funktioniert über die im Stadtbild
versteckten Plätze, an denen sich das Leben von unserem jetzigen gar nicht so stark unterschieden hat – allerdings gab es vor 400 Jahren bestimmt nicht so viele Baustellen wie heute. _Die
App Hidden Hamburg lässt sich für Android-Nutzer bei Google Play unter __diesem Link __ herunterladen._ _In Apples App Store ist sie __hier zu finden __. _