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Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde. Während die Ukraine weiter um ihre Existenz kämpft und einen hohen Preis dafür zahlen muss, diskutiert Deutschland unverändert über die
eigene Positionierung. Über den offenen Brief, der sich gegen die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine ausspricht, respektive über die von Ralf Fücks vom Zentrum Liberale Moderne
initiierte Antwort, die die Wichtigkeit von Waffenlieferungen im Gegenzug unterstreicht. Neben der Sendung von Anne Will waren die Briefe die Woche unter anderem Thema bei Maybrit Illner, wo
auch der Mitunterzeichner des ersten Briefes, der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar und als Osteuropa-Experte bisher nicht aufgefallen, mitdiskutierte. In einem paternalistischen Ton
erklärte er, dass er zwar die Ukrainer grundsätzlich verstehe: »Wenn ich selber in der Ukraine wäre, dann würde ich auch alles fordern, um sich zu verteidigen. Aber wir sitzen hier und
müssen darauf achten, dass das Ganze nicht eskaliert.« Die Fragen der Publizistin und Grünenpolitikerin Marina Weisband, wie man Wladimir Putin an den Verhandlungstisch bringen solle, wenn
er das nicht wolle, ignorierte Yogeshwar vollkommen. Wieder war generell nur davon die Rede, dass man »immer mehr über Waffen und zu wenig über Verhandlungen redet«, ohne konkret zu sagen,
wie diese Verhandlungen denn aussehen sollten. »Wir liefern jetzt schwere Waffen, und irgendwann wird die Ukraine siegen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist gering«, sagte Yogeshwar zudem. Mit
einem »Sieg« für die Ukraine kann zwar in der Tat vieles gemeint sein, doch prominente internationale Militärexperten äußern sich, auch im SPIEGEL, viel weniger pessimistisch mit Blick auf
die Chancen des ukrainischen Militärs. Ich bin Ukrainer und in der Ukraine, natürlich bin ich von diesem Krieg persönlich betroffen, obwohl ich als de facto deutscher Journalist dazu
verpflichtet bin, objektiv zu berichten. Doch es geht mir nicht darum, die Meinungsfreiheit in Deutschland »einzuschränken« und die Gegner der Lieferung schwerer Waffen nicht in Talkshows
einzuladen. Nur habe ich seit Beginn dieser Debatte nichts Vernünftiges dazu gehört, wie denn die angepeilte Verhandlungslösung aussehen sollte, während Wladimir Putin bei seinen maximalen
Zielen wie »Entnazifizierung« der Ukraine bleibt. Stattdessen wird die Mitinitiatorin des offenen Briefes Alice Schwarzer, auch keine Osteuropa-Expertin, von allen großen Medien damit
zitiert, dass sie eine Reise von Bundeskanzler Scholz zum 9. Mai nach Kiew für eine »Provokation ohnegleichen« halten würde – ausgerechnet in ein Land, das während des Zweiten Weltkriegs so
viel Leid wie kaum ein anderes erlebte. Ein weiterer Mitinitiator, der österreichische Medientheoretiker Peter Weibel, der ebenfalls wenig mit Osteuropa zu tun hat, war sogar im Interview
mit dem »Standard« so unverschämt zu behaupten, die Ukrainer würden nicht allein vor dem Krieg, sondern auch aus der »korrupten Ukraine« fliehen. Ich kenne jedoch niemanden persönlich, der
es in den vergangenen Monaten aus dem Land geschafft hat und nicht schnellstmöglich zurückkehren möchte. PEINLICHE FERNSEHMOMENTE Das, was sich der deutsche Soziologe und Sozialpsychologe
Harald Welzer, einer der Unterzeichner des ersten Offenen Briefes an Bundeskanzler Scholz, gegenüber dem ukrainischen Botschafter Andrij Melnyk am vergangenen Sonntag live bei Anne Will
erlaubte, war einer der peinlichsten und traurigsten Momente, die ich je im deutschen Fernsehen erlebt habe. Der durch besondere Osteuropa-, Russland- und Ukraine-Kenntnisse bisher nicht
aufgefallene Welzer begründete seine Ablehnung der Lieferung von schweren Waffen im Ernst mit der »ganz präsenten Kriegserfahrung« in deutschen Familien. Das sagte er »als Mitglied dieser
Gesellschaft« nicht nur dem Botschafter eines Landes, welches sich aktuell mitten in einem von ihm ungewollten Verteidigungskrieg befindet, sondern auch dem Vertreter eines der
Hauptleidtragenden des Zweiten Weltkrieges, in dem die Ukraine zwischen acht und zehn Millionen Menschen verloren hat. Als sich Melnyk zu Recht empören wollte, wurde er von Welzer mit den
unfassbaren Worten unterbrochen: »Bleiben Sie irgendwie beim Zuhören und ich beim Kommentieren.« Dass der ukrainische Botschafter auf diesen beispiellos arroganten Oberlehrerton nur mit »Ich
bin kein Student« reagierte und nicht das Studio gleich verließ, halte ich für ein Wunder. Es ist mir nicht klar, warum die Medien angesichts eines Kriegs in Osteuropa jenen Personen so
viel Aufmerksamkeit schenken, die keine Expertise auf dem Gebiet haben. DIE VERFASSER ERHEBEN SICH ÜBER DIE UKRAINISCHE REGIERUNG Der offene Brief suggeriert, dass die Ukraine einen extrem
unliebsamen Kompromiss mit Russland suchen solle, auf einen anderen würde sich der Kreml ja nicht einlassen. Die Verfasser erheben sich gleichzeitig über die ukrainische Regierung – denn
»der berechtigte Widerstand steht zum Maß an Zerstörung und menschlichem Leid irgendwann in einem unerträglichen Missverhältnis«, heißt es. Und es sei »ein Irrtum«, dass »die Entscheidung
über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren »Kosten« an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle.« Denn
»moralisch verbindliche Normen« seien universaler Natur. Das in dieser Form zu behaupten, während es hier in der Ukraine nicht nur um Entscheidungen der Regierung geht, sondern um klaren
gesellschaftlichen Konsens, dass man das eigene Land – gerade nach den Massakern von Butscha, Borodjanka und Mariupol – mit aller Kraft verteidigen soll, ist ein Versuch, mit schönen Worten
zu vertuschen, was man wirklich denkt. Natürlich wäre es gerade in Deutschland, dessen Gesellschaft so stark von der auch von Harald Welzer demonstrierten moralischen Überlegenheit geprägt
ist, schwierig, offen zu behaupten: Die Ukraine ist kein Nato-Mitglied, wir haben keine Verpflichtungen, müssen auch keine Waffen liefern und es ist ja nicht unser Krieg, macht das bitte
allein. Das wäre hart, aber zumindest ehrlich gewesen. Das ist eine Position, deren Existenz man zumindest akzeptieren muss. Stattdessen prägen die Briefeschreiber im deutschen Fernsehen
inhaltsfreie Debatten über nicht näher genannte Kompromisse, während die Delegationen der Ukraine und Russlands eigentlich seit den ersten Kriegstagen verhandeln und Kiew es selbst angeboten
hat, etwa über militärische Neutralität zu sprechen. Soll die Ukraine die Krim und die sogenannten Separatistenrepubliken anerkennen, während Russland in drei weiteren ukrainischen Gebieten
militärisch aktiv ist? Und etwa die sogenannte »Entnazifizierung«, die durchaus in neu besetzten Gebieten von Moskau angepeilt wird, einfach akzeptieren? Würden sie, deutsche Intellektuelle
und Prominente, das anstelle der Ukraine tun? Das glaube ich nicht. Und das sollten auch deutschsprachige Medien ernsthaft hinterfragen, bevor sie auf eine abweichende und vermeintlich
spannende Meinung ohne jegliche Grundkenntnis massenhaft hereinfallen.