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Ende April in einer Kopenhagener Grundschule: Zu der Zeit waren in Deutschland alle Klassenräume noch geschlossen
Bjørn Haldur hätte nicht gedacht, dass er sich einmal so intensiv damit befassen würde, wie Türklinken am besten zu reinigen sind. Er hätte auch nicht geglaubt, dass er den großen Pausenhof
einmal einteilen würde in viele kleine Pausenhöfe, oder dass er darüber nachdenken würde, Absperrbänder quer über die Flure zu spannen, wie an einem Tatort.
Haldur leitet die Svend Gønge-Skolen, eine Schule in der Kleinstadt Vordingborg, eine Zugstunde vor Kopenhagen. 420 Kinder lernen hier. Aber in den vergangenen Monaten war Haldur vor allem
damit beschäftigt, möglich zu machen, was während der Coronakrise in den meisten Ländern undenkbar war: Unterricht im Klassenzimmer.
Nach Ostern öffneten in Dänemark die Schulen wieder - und damit fast einen Monat früher als in Deutschland. Dänische Schülerinnen und Schüler kehrten schrittweise zurück in die Klassenräume.
In Deutschland begehrten Mütter und Väter auf, die Regierung lasse sie mit der Kinderbetreuung allein; in Dänemark machte Ministerpräsidentin Mette Frederiksen klar: Familien müssen in der
Krise entlastet werden. Auch Kitas und Kindergärten nahmen deshalb schnell wieder den Betrieb auf.
Frederiksen hatte ihrem Land zwar sehr früh einen strikten Lockdown verordnet, bereits am 14. März hatte Dänemark die Grenzen zu den Nachbarländern geschlossen. Doch die Regierung begann
auch besonders schnell, diese Beschränkungen wieder zu lockern. "Um Dänemark vorsichtig und kontrolliert öffnen zu können", sagte Frederiksen und meinte den Neuanfang in den Schulen, "müssen
wir eine Gratwanderung wagen."
Wie hat diese Gratwanderung funktioniert? Und wie sieht sie überhaupt aus? Wie haben sich die Fallzahlen in Dänemark entwickelt?
"Die Schwierigkeit war, die Eltern zu überzeugen, dass wir wissen, was wir tun. Dass sich ihr Kind nicht ansteckt und dass wir die Lage im Griff haben", sagt Schulleiter Haldur. In den
ersten Tagen hätten ungefähr 20 Prozent der Eltern ihre Kinder aus Angst vor einer Ansteckung noch nicht zum Unterricht geschickt. Mittlerweile seien aber fast alle zurück an der Svend
Gønge-Skolen.
Um Vertrauen zu schaffen, schickte Haldur einen Infobrief an die Familien, darauf steht zum Beispiel:
"Alle vasker hænder ved ankomst!" – Wasche deine Hände, wenn du ankommst."
"Alle elever møder direkte ind i deres klasse af branddøren! - Alle Schüler treffen sich direkt in ihrer Klasse an der Brandschutztür!"
Wenn man Hardur, 48 Jahre, fragt, was er Kolleginnen in Deutschland raten kann, dann kommt er immer wieder auf den "großen Plan" zu sprechen. "Du brauchst einen großen Plan, wann welche
Schüler wo unterrichtet werden. Wer mit wem Kontakt hat, um Infektionsketten nachvollziehen zu können. Wann welche Türklinke gereinigt wird. Organisation ist alles."
Dänemarks sozialdemokratische Ministerpräsidentin Mette Frederiksen: "Gratwanderung"
Die Regierung, sagt Haldur, habe eine "Orientierung" geboten, aber den "großen Rückkehr-Plan" habe jede Schule selbst aufstellen müssen:
Zuerst kehrten die Klassen null – die dänische Vorschulklasse – bis fünf zurück in den Unterricht, also die Sechs- bis Elfjährigen. Ein paar Wochen später folgten die 12- bis 16-Jährigen,
bis zur Stufe neun.
Die Klassen sind auf je zwei Räume und auf zwei Lehrkräfte verteilt, mit zwei Metern Abstand zwischen den Tischen. Unterricht im Schichtbetrieb, vier Stunden am Tag, von 8 bis 12 Uhr die
Jüngeren, von 10 bis 14 Uhr die Älteren. Zwischen den Schichten: Desinfektion der Räume, Vorbereitung auf den nächsten Schwung. Die Kinder und Jugendlichen müssen alle zwei Stunden ihre
Hände waschen. Die Lehrkräfte seien schon mehr gefordert als in normalen Zeiten, sagt Haldur.
Haldur sagt, Dänemarks Schüler seien in einer privilegierten Situation. Ein Großteil der Kinder bekomme von der Schule einen Tabletcomputer ausgehändigt – das habe sich im Corona-Lockdown
als großer Vorteil erwiesen: Denn auch Kinder aus finanziell schlechter gestellten Haushalten konnten so voll am digitalen Unterricht teilnehmen.
In Deutschland ist die Diskussion darüber neu entfacht, welche Rolle Kinder bei der Ausbreitung des neuen Coronavirus tatsächlich spielen. Aufregung gab es gerade um eine Studie des
Virologen Christian Drosten von der Berliner Charité und seiner Kollegen, laut der Kinder, die mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 infiziert sind, genauso ansteckend sein könnten wie Erwachsene.
Die Studie schien die Entscheidung zu bestätigen, Kindergärten und Schulen in Deutschland besser geschlossen zu halten.
Vier medizinische Fachgesellschaften riefen zuletzt dazu auf, Kitas, Kindergärten und Grundschulen "möglichst zeitnah" wiederzueröffnen, und zwar "uneingeschränkt".
Auch in Dänemark gibt es zur Frage um die Ansteckungsgefahr durch Kinder keine eindeutige Linie. Die Öffnung der Schulen jedenfalls führte nicht zu einem Anstieg der Corona-Fallzahlen: Die
Neuinfektionen sinken seit Wochen.
Kinder vor einer Grundschule in Kopenhagen: Dänemark öffnete als eines der ersten europäischen Länder seine Schulen
Direkt an einem Fjord im Osten Dänemarks, im Städtchen Tappernøje, liegt das "Marjatta", eine spezielle Schule für behinderte Kinder. Viele von ihnen wohnen dort unter der Woche in einem
angegliederten Internat, alle zwei Wochen werden sie von ihren Eltern abgeholt und verbringen das Wochenende zu Hause. In normalen Zeiten. Und in der Coronakrise?
Lisbeth Schmitz, 59 Jahre, ist Lehrerin am Marjatta. Sie sagt, ihre Schule sei auch während des strengen Lockdowns durchgehend in Betrieb gewesen. Die Betreuung eines behinderten Kindes sei
besonders viel Aufwand, meist eine Rund-um-die-Uhr-Aufgabe. Die Eltern habe man damit nicht allein lassen können.
Schmitz beobachtet, dass der durch die Vorsichtsmaßnahmen entschleunigte Schulalltag vielen Kindern sogar guttue. "Gerade sehr sensible oder autistische Kinder sind von Lärm und Hektik
schnell überfordert. Sie genießen, dass gerade weniger Action angesagt ist und die Lerngruppen kleiner sind."
"Vielleicht werden wir manche Dinge nach der Coronakrise gar nicht mehr zurückändern", sagt Schmitz.
Klar, man habe vieles anders organisiert, sagt Schmitz, zum Beispiel Terrassentüren als Eingänge in die Klassen genutzt, damit nicht alle durch die große Pforte gehen müssen. Man habe
weniger Spiele gespielt, in denen sich die Kinder gegenseitig berühren oder viel klatschen. Rund um die Uhr sei medizinisches Personal in Bereitschaft, im Fall des Falles - viele Kinder,
etwa mit dem Downsyndrom, zählen aufgrund eines Herzfehlers zur Corona-Risikogruppe.
Auch das große Begrüßungsritual, der Morgenkreis, an dem sich normalerweise alle Kinder der Schule in einen großen Kreis im Hof aufstellen, an der Hand nehmen und ein Lied singen, falle im
Moment aus.
Schlangestehen am 15. April: Im dänischen Gladsaxe lief die Rückkehr ins Klassenzimmer sehr geordnet ab
Ein paar Kinder im Marjatta können das mit dem Coronavirus nicht verstehen, sagt Schmitz, sie bräuchten aber auch in normalen Zeiten mehr Betreuung. Insgesamt könne man den Kindern aber jede
Menge Verantwortung zutrauen. Dass sie sich richtig die Hände waschen zum Beispiel. Sie sei ein paar Mal mit zur Toilette gegangen, um zu gucken, wie die Kinder das mit dem Einseifen
anstellen. "Das haben die Kinder toll geschafft," sagt sie. "Ich glaube, das Bewusstsein für Hygiene wird bleiben."
Lehrerin Schmitz mit Schüler Karl Emil: Die Behindertenschule Marjatta hatte während der Coronakrise durchgehend geöffnet
In etwa fünf Wochen beginnen die Sommerferien in Dänemark. Bis dahin hat das Bildungsministerium für alle Klassen die Prüfungen gestrichen. Nur Abschlussprüfungen wie das Abitur sollen noch
durchgeführt werden, teilweise prüfen Lehrer ihre Schüler via Facetime oder Skype.
Schulleiter Bjørn Haldur, in Vordingborg, sagt, alle, Lehrer, Kinder, Eltern, seien froh, dass mit der Schulöffnung ein bisschen Alltag zurück ist: "Natürlich machen wir viele Fehler, aber
das ist okay. Denn wir machen das alle zum ersten Mal."
Am Marjatta, sagt Lehrerin Schmitz, haben die Kinder der dritten Klassen im Werkunterricht Sitzbänke gezimmert, für den großen Hof, und für die Zeit nach Corona, wenn man wieder gemeinsam
auf so einer Bank Pause machen kann.
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