Joe Biden: Jetzt muss er nur noch gewinnen - DER SPIEGEL

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Joe Biden hielt seine Rede in einer Halle in seiner Heimatstadt Wilmington in Delaware, nur wenige Zuschauer waren zugelassen


Nein, Joe Biden ist kein brillanter Redner. Kein Barack Obama. Aber bei der bislang wohl wichtigsten Rede seiner langen politischen Karriere überrascht er alle. Am letzten Tag des virtuellen


Wahlparteitags der Demokraten übertrifft Biden sich selbst.


Er steht an einem braunen Pult in einer Halle seiner Heimatstadt Wilmington in Delaware, hinter ihm sind amerikanische Flaggen zu sehen. Der Kandidat, der als Kind Stotterer war und immer


noch häufig ganze Worte verdreht, verhaspelt sich praktisch kaum. Biden spricht ungewohnt klar, kämpferisch und entschlossen.


"Der derzeitige Präsident hat Amerika viel zu lange in Dunkelheit gehüllt. Es gibt zu viel Wut. Zu viel Angst. Zu viel Spaltung", ruft er in die TV-Kameras, die seine Rede in die Wohnzimmer


von vielen Millionen Wählerinnen und Wählern übertragen. "Wir sind die Vereinigten Staaten von Amerika. Gemeinsam können und werden wir diese dunkle Stunde überwinden."


Joe Biden wirkt wie ein Mann, der mit sich selbst im Reinen ist, der sich und den Zuschauern nichts mehr beweisen muss. Es ist ja auch so: Die Demokraten und die meisten amerikanischen


Wähler kennen Biden. Er ist seit mehr als 45 Jahren eine Größe im politischen Betrieb der USA. Er war Senator und Vizepräsident. Er gilt als anständiger Kerl, der gut mit Menschen kann, auch


mit solchen, die anderer politischer Meinung sind als er.


Wenn Biden hier an diesem Tag einen Punkt setzen will, dann ist es der, dass er auch Präsident kann. Biden präsentiert sich als Versöhner, als ernster und seriöser Staatsmann. Seine Mission


lautet: Er will Donald Trump aus dem Weißen Haus vertreiben.


Biden stellt einen klaren Kontrast zu Trump her. Die Menschen sollen ihm mehr vertrauen als dem Amtsinhaber. Er will nach den Dramen, Skandalen und endlosen Streitereien der vergangenen vier


Trump-Jahre die Sehnsucht vieler Amerikaner nach politischer Ruhe, nach mehr Einigkeit und Verlässlichkeit erfüllen.


Bidens Vision ist die von einem anderen, einem besseren, einem geeinten Amerika. Er werde ein Präsident für alle Bürger sein, verspricht Biden. Für jene, die für ihn stimmen, ebenso wie für


alle, die ihn nicht wählen. "Das ist die Aufgabe des Präsidenten. Er muss ganz Amerika repräsentieren, nicht nur seine Basis oder seine Partei. Dies ist kein parteiischer Moment. Dies muss


ein amerikanischer Moment sein."


Joe Biden setzt darauf, dass sein Angebot, ein versöhnlicher Präsident zu sein, den Sieg bringen wird. Einiges spricht dafür, dass sein Plan aufgehen könnte. Bidens wichtigster Wahlhelfer


ist dabei Trump selbst. Umso mehr der Tag für Tag bei Twitter oder in TV-Interviews den wilden Mann spielt, desto größer, würdevoller und präsidialer erscheint der Herausforderer.


Hinzu kommt: Biden hat mit der anhaltenden Coronakrise das eine große Thema gefunden, mit dem er Trump quälen kann. Er empfiehlt sich den Wählern als erfahrener Krisenmanager, der im


Gegensatz zu Trump in der Lage wäre, die Pandemie effektiv einzudämmen.


"Ich werde Amerika beschützen. Ich werde uns vor jedem Angriff verteidigen", ruft Biden. "Wenn dieser Präsident wiedergewählt wird, wissen wir, was passieren wird", sagt er. "Die Zahl der


Infektionen und die Zahl der Todesfälle werden viel zu hoch bleiben. Weitere Unternehmen werden schließen müssen, Familien werden weiter Schwierigkeiten haben durchzukommen." Es sei klar:


"Unser derzeitiger Präsident hat seine grundlegendste Pflicht gegenüber dieser Nation nicht erfüllt. Er hat uns nicht beschützt. Das ist unverzeihlich."


Vor dem Parteitag wurde bei den Demokraten, aber auch in vielen US-Medien lange darüber debattiert, dass Biden mit seinen 77 Jahren der Aufgabe des Präsidenten nicht gewachsen sein könnte,


dass er im Wahlkampf zu viele Fehler machen würde. Donald Trump machte sich über "Sleepy Joe" lustig, über den "schläfrigen Joe". Aber davon ist an diesem Tag nichts zu spüren, Amerika


erlebt einen Biden in Bestform.  


Hält Biden diese Form in den verbleibenden Wochen bis zur Wahl, könnte es für Trump immer schwieriger werden, ihn noch einzuholen. Die Demokraten für ihren Teil sind nach diesem Parteitag


jedenfalls mehr als optimistisch. Der Kandidat ist voll da. Und: Trotz der schwierigen Corona-Umstände verlief auch in dem virtuellen Format alles nach Plan, es gab keine größeren Patzer.


Die Partei-Oberen erwarten sich einen schönen Schub in den Umfragen.


Doch es bleiben die bekannten Risiken: Bis zum Wahltag sind es noch mehr als 70 Tage hin. Da kann viel passieren. Und: Es ist bislang in US-Wahlkämpfen immer noch so gewesen, dass die beiden


Lager zum Ende des Rennens in der Wählergunst immer näher beieinander liegen. So kann es auch diesmal kommen. Donald Trump will seine Aufholjagd in der kommenden Woche starten, mit seinem


eigenen Wahlparteitag in Charlotte, North Carolina.


Auch Biden wird wohl wissen, dass dieses Rennen noch nicht gelaufen ist. Am Ende seiner Rede blickt er ernst, fast zornig. Es ist nicht einmal der Funke eines Lächelns in seinem Gesicht.


Joe Biden hielt seine Rede in einer Halle in seiner Heimatstadt Wilmington in Delaware, nur wenige Zuschauer waren zugelassen