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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? In
Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler
Probleme. Alle Artikel Von dem Virus erfuhr Salma Akhter das erste Mal in der Textilfabrik. Sie saß an ihrer Nähmaschine im zweiten Stock und nähte Reißverschlüsse in Hosen ein: "Wascht
euch die Hände mit Seife", so erinnert sie sich an die Lautsprecherdurchsage eines Vorgesetzten: "Ein Virus aus China ist in Bangladesch angekommen". Bald schon erhielten die
Arbeiter weitere Warnungen. Sie sollten die Masken in der Fabrik nicht absetzen. Vor Arbeitsbeginn wurden sie und die anderen Mitarbeiter mit Desinfektionsmittel besprüht. Aber erst am 26.
März bekam die 24-jährige Akhter die Folgen der Pandemie am eigenen Leib spüren: Die Fabrik, in der sie bis dahin gearbeitet hatte, musste schließen. Ein paar Wochen später erhielt sie die
Kündigung per SMS. Sie sitzt in ihrer Zwei-Zimmer-Wohnung auf ihrem Bett; ein geblümter Mundschutz hängt aus ihrem Kopftuch vor. Ersparnisse hat sie so gut wie keine. "Wie sollen wir
jetzt überleben?", fragt sie. "Ich muss meine Miete zahlen, wir müssen essen". TEXTILRIESEN WIE C&A UND ZARA HABEN AUFTRÄGE IN MILLIARDENHÖHE STORNIERT Akhter lebt in
Gazipur, einer Industriestadt mit mehr als einer Million Einwohnern. Es gibt hier Hunderte Textilfabriken. Zehntausende Arbeiter nähen hier für die ganze Welt, auch für deutsche Kunden – und
das zu einem Preis, wie er in Europa niemals möglich wäre. Fotostrecke Näherinnen in Bangladesch Foto: Fabeha Monir / DER SPIEGEL Viele Jahre lang lebte Bangladesch vom Versprechen der
Globalisierung in seiner einfachsten Form: Reiche Länder erhalten billige Waren; Menschen in armen Ländern im Gegenzug ein Einkommen. Aber seit Corona gilt der alte Deal nicht mehr. Europas
Einkaufsstraßen lagen vielerorts wochenlang wie verwaist da. Bekleidungsgeschäfte sind auch jetzt noch geschlossen oder dürfen nur eine beschränkte Anzahl Kunden in den Laden lassen. Die
Branche sieht Umsatzeinbußen und Entlassungen entgegen und scheint in vielen Fällen beschlossen zu haben, den wirtschaftlichen Druck nach unten weiterzureichen: Allein in Bangladesch haben
ausländische Unternehmen in den vergangenen Wochen Aufträge im Wert von drei Milliarden Euro stornieren oder aussetzen lassen. Darunter befinden sich Textilriesen wie Primark, C&A und
das spanische Unternehmen Inditex, zu dem unter anderem die Marke Zara gehört. Auch Akhter nähte Säume und Reißverschlüsse für die Spanier. Und auch die Unternehmen, die ihren Lieferanten
treu geblieben sind, könnten künftig weniger Waren aus dem Ausland bestellen. In Ländern, wo der Lockdown derzeit gelockert wird, nimmt die Nachfrage nur zögerlich wieder Fahrt auf. Denn
auch wer wieder shoppen darf, kann sich das Einkaufen unter Umständen nicht leisten. Deutsche Firmen haben für mehr als zehn Millionen Beschäftigte Kurzarbeit angemeldet. 33 Millionen
US-Amerikaner haben sich in den vergangenen sieben Wochen arbeitslos gemeldet. AKHTERS MONATSLOHN: KNAPP 105 EURO Doch es sind die Schwächsten in der Lieferkette – Frauen wie Akhter – die es
am härtesten getroffen hat: Geschätzte eine Million der insgesamt vier Millionen Textilarbeiter im Land haben in den letzten Wochen ihre Jobs verloren. Hunderttausende Arbeiter in den
Textilfabriken Kambodschas, Myanmars und Indiens teilen ihr Schicksal. Für Alexander Kohnstamm, Leiter der Fair Wear Foundation, tritt in der Krise ein grundlegendes Problem der globalen
Textilindustrie zutage: "Zu viele in der Branche haben sich auf ein Geschäftsmodell verlassen, das auf hohe Stückzahlen und kleine Margen setzt. Jetzt fehlen die Rücklagen, um die Krise
zu überstehen." Das gelte für die großen Kleiderketten in Europa genauso wie für Fabrikbesitzer in Bangladesch. Darunter zu leiden hätten vor allem die Arbeiter. Denn diese könnten
sich – anders als Arbeitnehmer in Deutschland – weder auf Ersparnisse noch auf den Staat verlassen. Das sieht Khondaker Golam Moazzem ähnlich. Der wissenschaftliche Direktor der Denkfabrik
Centre for Policy Dialogue in Dhaka sagt: "Die meisten Textilarbeiter haben gerade große finanzielle Schwierigkeiten. Sie werden auf Essenspakete der Regierung angewiesen sein."
Akhter zum Beispiel bekam Mitte April noch ein letztes Mal ihr Gehalt in bar ausgezahlt; 9800 Taka, knapp 105 Euro. Das entspricht dem Mindestlohn, reicht aber gerade einmal aus, um damit
ihre Miete und ihr Essen zu bezahlen. Ersparnisse hat sie keine. "Wir haben kaum mehr Geld für Seife, um uns zu Hause zu schützen", sagt sie. Ein Stück Seife kostet 40 Taka, gut 40
Cent. Mehr zu Bangladesch Das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat Unternehmen aufgefordert, "ihrer Verantwortung für die Beschäftigten in
den Zulieferbetrieben und entlang der gesamten Lieferkette auch während der Krise nachzukommen". Firmen wie Otto und Tchibo hätten sich schon dazu bekannt, sich an einem
Textil-Hilfsfonds der Bundesregierung zu beteiligen, erklärt ein Sprecher auf Anfrage. Man wolle Fabriken dabei unterstützen, die Produktion auf Schutzmasken umzustellen. Außerdem stimme man
aktuell mit der Regierung von Bangladesch eine Beteiligung am nationalen Hilfsprogramm ab, das eine Lohnfortzahlung für Beschäftigte im Textilsektor vorsieht. Die Regierung von
Premierministerin Sheikh Hasina hatte bereits Ende März Fabrikbesitzern fast 590 Millionen Dollar an staatlichen Hilfen zugesagt, um damit die Löhne der Arbeiter zu bezahlen. Der gewünschte
Erfolg blieb aus: Laut einer Umfrage der BRAC Universität in Dhaka hatten fast die Hälfte der Arbeiter in den ersten beiden Aprilwochen keinen Lohn erhalten. MENSCHEN HUNGERN, KRANKHEITEN
NEHMEN ZU Die Textilbranche hat Bangladesch schon früher großes Leid beschert. Vor fast genau sieben Jahren stürzte das Rana Plaza-Gebäude ein, mehr als tausend Menschen starben, die meisten
davon Näherinnen. Aber die Fabriken haben Bangladesch auch neuen Wohlstand gebracht. Viele der sozialen Fortschritte im Land gehen auch auf die Textilindustrie zurück, in der vor allem
Frauen Arbeit gefunden und damit auch immer ein Stück weit Macht gewonnen haben: Heute arbeiten Frauen in Bangladesch ähnlich häufig wie Männer. Die Kinderrate ist innerhalb der vergangenen
40 Jahre von sechs auf fast zwei gesunken, die durchschnittliche Lebenserwartung stieg derweil von 53 auf 72 Jahre. Bangladesch ist eins der wenigen Entwicklungsländer, in dem mehr Mädchen
zur Schule gehen als Jungs. "In der Textilindustrie haben auch Alleinerziehende und Hausfrauen Arbeit gefunden. Der Job hat unser Leben verändert", sagt Akhter. "Wenn die
Fabriken schließen, werden alle diese Frauen ohne Essen sterben." Bangladeschs Textilindustrie ist heute nach China die zweitgrößte der Welt. Die Branche setzte zuletzt rund 40
Milliarden Dollar um, sie macht 84 Prozent der Gesamtexporte des Landes und 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus, sie ist der Motor der Wirtschaft. Diese wuchs zuletzt jährlich um acht
Prozent; laut einer Prognose der Weltbank könnten es jedoch dieses Jahr lediglich zwei Prozent sein. Der Lockdown, den sich das Land aus Angst vor Covid-19 verordnet hat, verschärft die Lage
im Land weiter: Hunger und Arbeitslosigkeit haben zugenommen; eigentlich leicht zu behandelnde Krankheiten befinden sich auf dem Vormarsch. Der Ökonom Moazzem hält es für möglich,
"dass die Textilindustrie sich in einem halben oder einem Jahr wieder erholt". So sei es auch während der Finanzkrise gewesen. Damals sei die Nachfrage nach günstigen Textilien
binnen kurzer Zeit wieder gestiegen – und Bangladesch sei das Land, das günstig produzieren könne. Aber dafür muss Bangladesch auch genau das tun: wieder produzieren. Um die Ausbreitung des
neuen Coronavirus zu unterbinden, mussten alle Fabriken zeitweise schließen. Auch wenn die Nachfrage niedrig ist, glauben viele Besitzer, können sie es sich nicht erlauben, ihre Fabriken
weiter geschlossen zu halten. Textilhersteller in Ländern wie Vietnam und China, die für den Moment das Schlimmste der Pandemie überstanden zu haben scheinen, locken Kunden.
Bangladeschische Unternehmer machen sich über das Sorgen, was Fair-Wear-Leiter Kohnstamm als "Wanderzirkus" bezeichnet: Konzerne, die mit ihren Aufträgen von Land zu Land
ziehen, immer dem günstigsten Preis hinterher. "BRUTALES DILEMMA": JETZT SOLLEN DIE FABRIKEN WIEDER ÖFFNEN Die Behörden haben die mehr als 4000 Fabriken im Land bereits
aufgefordert, baldmöglichst wieder zu öffnen. Die Bangladesh Garment Manufacturers and Exporters Association (BGMEA) hat Richtlinien herausgegeben, die die Sicherheit der Arbeiter während
der Pandemie garantieren sollen: So sollen die Näherinnen Abstand voneinander halten, einen Mundschutz tragen und sich regelmäßig die Hände waschen. Die Frage sei jedoch, sagt Kohnstamm:
"Werden die neuen Standards auch befolgt?" Unternehmer, die unter finanziellem Druck stehen, könnten entscheiden, dass Sicherheit etwas ist, das sie sich nicht leisten können –
oder wollen. Viel zu befürchten hätten sie nicht: Kontrollen müssen sie keine erwarten, weil diese derzeit verboten sind. Die Behörden fürchten, dass ein womöglich infizierter Prüfer das
Virus von Fabrik zu Fabrik trägt. Rubana Huq, die Präsidentin des BGMEA nannte die Lage ein "brutales Dilemma": Bleiben die Fabriken geschlossen, könnten Menschen buchstäblich
verhungern. Öffnen die Fabriken, drohen ebenso Menschen zu sterben. Seit ein paar Wochen steigen in Bangladesch die Zahlen neuer Corona-Infektionen rapide an und anscheinend vor allem in den
Slums rund um die Fabriken. Aber mehr als das Virus fürchten Arbeiter wie Akhter eine Zukunft ohne Arbeit. Dabei ist der Hinterhofkomplex, den sie mit acht Familien teilt, ein idealer
Ausbreitungsort für eine Infektion. Sie und etwa 30 Menschen teilen sich dort zwei Küchen und zwei Toiletten. Im Innenhof trocknen bunte Tücher und T-Shirts der Nachbarn. Seit ungefähr ihrem
16. Lebensjahr arbeitet die 24-Jährige in der Textilindustrie. Eigentlich sei es auch für geübte und erfahrene Arbeiterinnen wie sie nicht schwer, eine neue Stelle zu finden, sagt sie.
"Doch wer stellt jetzt noch Leute ein?" Jetzt, wo die Fabriken wieder geöffnet haben, will sie es trotzdem versuchen. DIESER BEITRAG GEHÖRT ZUM PROJEKT GLOBALE GESELLSCHAFT Unter
dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus ASIEN, AFRIKA, LATEINAMERIKA UND EUROPA über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt, gesellschaftspolitische
Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des SPIEGEL. Das Projekt
ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt. Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie hier. Die Bill &
Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019 für zunächst drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Millionen Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr. 2021 wurde das
Projekt zu gleichen Konditionen um knapp dreieinhalb Jahre bis Frühjahr 2025 verlängert. Ja. Die redaktionellen Inhalte entstehen ohne Einfluss durch die Gates-Stiftung. Ja. Große
europäische Medien wie »The Guardian« und »El País« haben mit »Global Development« beziehungsweise »Planeta Futuro« ähnliche Sektionen auf ihren Nachrichtenseiten mit Unterstützung der
Gates-Stiftung aufgebaut. Der SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates
Foundation umgesetzt: die »Expedition ÜberMorgen « über globale Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt »The New Arrivals «, in deren Rahmen mehrere preisgekrönte
Multimediareportagen zu den Themen Migration und Flucht entstanden sind. Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft .