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DÜSSELDORF. ENGAGIERT UND UNTERBESETZT, SO KÖNNTE MAN DIE KOLLEGIEN AN SOGENANNTEN BRENNPUNKTSCHULEN BESCHREIBEN. DENN HIER IST DER LEHRERMANGEL LAUT ERHEBUNGEN DERZEIT AM HÖCHSTEN. DESHALB
GEHT ES IN DER FÜNFTEN UND LETZTEN FOLGE DER REPORTAGEREIHE „PLÖTZLICH LEHRER“ UM DAS GROSSE THEMA CHANCENGERECHTIGKEIT UND DIE FRAGE, WAS EIGENTLICH GUTE BILDUNG AUSMACHT. AUSSERDEM
BEGLEITET NEWS4TEACHERS REDAKTEURIN LAURA MILLMANN DEN SEITENEINSTEIGER ANDRE DIEHL IN SEINER NEUEN ROLLE ALS KLASSENLEHRER. Wir treffen Andre Diehl im Frühjahr 2022 an der
Emschertal-Grundschule in Dortmund wieder. Seit dem Sommer 2021 hat er zusammen mit seiner Schulleiterin die Leitung der Klasse 1b übernommen. Obwohl Andre vor dieser neuen Aufgabe anfangs
großen Respekt hatte, hat er inzwischen das Gefühl, nun wirklich angekommen zu sein. Wir treffen ihn in der großen Pause in seiner Klasse an. Es ist zum Ritual geworden, dass er seinen
Schülerinnen und Schülern während des Frühstücks eine Geschichte vorliest. Die Kinder sitzen dabei an ihren Gruppentischen. Vorne hängt noch die klassische grüne Tafel, die Regale sind
vollgestopft mit den Sachen der Schülerinnen und Schüler und an den Wänden hängen bunte Bilder. „Der Raum war vorher einfach nur ein Gruppenraum und meine Schulleiterin und ich haben ihn
während der Sommerferien komplett neu eingerichtet“, erzählt Andre. „Und jetzt wird er nach und nach immer voller. Die Kinder haben ihn in Beschlag genommen, wir haben ihn in Beschlag
genommen. Und wenn man hier regelmäßig reinkommt, fühlt man sich schon wohl.“ Die geteilte Klassenleitung gibt Andre die Chance, langsam in seine neue Rolle hineinzuwachsen. Gleichzeitig ist
diese Konstellation mit sehr viel Abstimmungsbedarf verbunden – zumal Andre auch weiterhin an einer weiteren Schule Sport unterrichtet. „Ich bin nie die ersten beiden Stunden hier an der
Schule, sodass ich meine Schulleiterin in der Pause immer nachfrage: Wer fehlt, gibt es was Neues? Und wir texten viel, schreiben Mails hin und her. Wenn uns etwas aufgefallen ist oder etwas
schlecht gelaufen ist, es einen Streit gab, dann versuchen wir, das dem anderen zu schreiben. Damit wir immer auf dem gleichen Stand sind.“ SOZIALE UNGLEICHHEIT ALS FOLGE VON CORONA Was
Andre immer wieder auffällt: Die Corona-Pandemie und die dadurch verursachten Schulschließungen haben Spuren hinterlassen, auch an der Emschertal-Grundschule. Einige seiner
Erstklässler*innen waren so gut wie nie im Kindergarten, bevor sie eingeschult wurden. Viele brauchten daher Zeit, um sich auf die neue Situation in der Schule und vor allem die große Gruppe
einzulassen. Außerdem stellt Andre immer wieder fest, dass durch Corona in allen Klassen die sozialen Ungleichheiten zugenommen haben: „Man merkt, wo zu Hause Unterstützung geleistet werden
konnte und wo nicht. Man hat schon gesehen, die Aufgaben, die abgegeben wurden oder nicht. Ob jemand regelmäßig in der Videokonferenz war oder nicht. Die Unterschiede sind extrem geworden
und es gibt Kinder, die haben den Anschluss verloren.“ Diese Beobachtungen sind umso erschreckender, als Andre noch nicht einmal an einer sogenannten Brennpunktschule unterrichtet. Laut dem
schulscharfen Sozialindex, der in Nordrhein-Westfalen zum Schuljahr 2021 eingeführt wurde, hat die Emschertal-Grundschule einen Sozialindextyp der Stufe 3 – bei insgesamt neun Stufen. Das
Ziel des schulscharfen Sozialindex sei es, so schreibt es das NRW-Schulministerium auf seiner Webseite, Schulen mit schwierigen sozialen Ausgangslagen zu identifizieren, um diese dann
zielgenauer unterstützen zu können. Wichtig zu wissen ist, dass es bei der Einstufung nicht um die pädagogische Arbeit an den Schulen geht. Der Sozialindex betrachtet lediglich die
Zusammensetzung der Schülerschaft in Hinblick auf vier Indikatoren: die Kinder- und Jugendarmut, der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit vorwiegend nichtdeutscher Familiensprache, der
Anteil der Schülerinnen und Schüler mit eigenem Zuzug aus dem Ausland und der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie
Sprache. Fällt eine Schule in die Stufen sechs bis neun, gilt sie als Schule in schwieriger Lage. Das gilt derzeit für knapp 8,6 Prozent der insgesamt rund 2.700 Grundschulen in NRW. Jedoch
hat die Landesregierung bereits eine Neuberechnung für das Jahr 2024 angekündigt, wodurch absehbar mehr Schulen in die höchsten vier Stufen rutschen werden. EINE SCHULE ALS LEBENSORT Eine
Schule, die bereits jetzt als sogenannte Brennpunktschule gilt, ist die Libellen Grundschule im Dortmunder Norden. Die Schulleiterin Christian Mika kennt die Sorgen, die Andre umtreiben –
jedoch um einiges extremer: „Unser Eindruck war schon, dass die Kinder hier auch in einer Form in der Schule ankamen, sowohl nach dem ersten als auch nach dem zweiten Lockdown, wo sie
sozial, emotional eingefroren wirkten. Also dass so wenig Interaktion war, Austausch, Bewegung und auch mit Gleichaltrigen, dass sie das ganz neu lernen mussten.“ Laut Christiane Mika
müssten sich Schulen in Zukunft ganz anders und breiter aufstellen – und das nicht nur mit Blick auf Corona. „An diesem Standort heißt das, dass wir nicht einfach eine Grundschule sind,
sondern uns als Stadtteilschule verstehen. Dass wir vielfältig verknüpft sind in unterschiedlichsten Netzwerken mit allen möglichen Akteuren und für die Familien eine wichtige Anlaufstelle
sind. Bei uns sollen Familien erleben, dass Bildung ein durchgängiger Prozess ist, bei dem sie gut begleitet werden und die Kinder erfolgreich für ihr Leben lernen können“, so die
Schulleiterin. Eine Schule als Lebensort, das ist das Ziel. Das Problem: Der Lehrermangel ist an Schulen mit schwieriger sozialer Ausgangslage besonders hoch. Denn wenn Lehrerinnen und
Lehrer händeringend gesucht werden, können sich die wenigen, die es gibt, ihren Arbeitsplatz natürlich aussuchen. Und die wenigsten entscheiden sich für ein Arbeitsumfeld, das so
herausfordernd ist. Dabei bräuchte es genau hier, an den sogenannten Brennpunktschulen, die besten Lehrkräfte. Daher bekräftigt Christiane Mika eine Forderung, die es theoretisch schon lange
gibt: „Es ist so wichtig, Ungleiches eben auch ungleich zu behandeln.“ Sprich: Schulen mit größeren Herausforderungen besser zu unterstützen, ihnen mehr Mittel zur Verfügung zu stellen und
auch Arbeitszeiten von Lehrkräften je nach Standort anders zu berechnen. SCHULE REPRODUZIERT SOZIALE UNGLEICHHEITEN Als Experte für Ungleichheiten im Schulsystem beschäftigt sich der
Bildungswissenschaftler Aladin el-Mafaalani regelmäßig mit dem Thema Lehrermangel. Er bestätigt die Einschätzung von Christiane Mika, dass eine Gleichbehandlung alle Kinder nicht zielführend
ist. „Es ist natürlich schon ein großer Fortschritt historisch gewesen, dass alle gleichbehandelt werden. Aber wenn man alle gleich behandelt, dann erzeugt man zwar keine weitere
Ungleichheit mehr, aber man reproduziert die Ungleichheit, die schon da ist. Also wenn Kinder auf unterschiedlichen Wissens- und Entwicklungsständen sind und man behandelt dann alle gleich,
dann wird man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die ungleichen Verhältnisse fortführen. Und nicht ausgleichen. Wenn man ausgleichen wollen würde, müsste man die Kinder gezielt und
systematisch ungleich behandeln. Also ungleiche Kinder ungleich behandeln, damit alle bestmögliche Entwicklungschancen haben“, erklärt el-Mafaalani. Seine Sorge ist, dass es den Lehrermangel
absehbar auch noch am Ende dieses Jahrzehnts geben wird und Lehrkräfte immer vor allem dort fehlen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Er plädiert dafür, jetzt schnell gegenzusteuern,
um eine Katastrophe zu vermeiden, und zwar mit verschiedenen Maßnahmen. Er schlägt beispielsweise vor, Rentnerinnen und Rentner in die Schulen zu holen (mit den richtigen finanziellen
Anreizen), Lehramtsstudierende einzusetzen, beispielsweise für Verwaltungstätigkeiten, mehr Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger für den Schuldienst zu begeistern (bei gleichzeitiger
Einführung eines funktionierenden Fortbildungssystems) und – ganz wichtig – schulexterne Professionen einzubeziehen, damit gerade auch Kinder in benachteiligten Stadtteilen viele
verschiedene Erfahrungen sammeln können. Denn: „In einem guten Bildungssystem sollte alles erlebbar und erfahrbar sein, was die Welt und die Gesellschaft Positives zu bieten hat“, ist der
Bildungswissenschaftler überzeugt. WAS MACHT EINEN GUTEN LEHRER AUS? Klar ist, gute Bildung kann nur funktionieren, wenn es genug engagierte Fachkräfte gibt, die tagtäglich versuchen, jedes
Kind bestmöglich zu fördern. Und klar ist auch, es braucht weiterhin einen großen Anteil von Menschen in unserem Bildungssystem, die Lehramt studiert haben. Denn ohne grundständig
ausgebildete Lehrkräfte würde das das System Schule sowie der Seiteneinstieg gar nicht funktionieren. Aber trotzdem ist ein Studium nicht Grundvoraussetzung dafür, um letztendlich ein guter
Lehrer, eine gute Lehrerin zu sein. Zumindest nennen die Interviewpartner*innen dieser Reportage andere Fähigkeiten und Eigenschaften, die eine gute Lehrkraft mitbringen sollte. Für Andre
muss ein guter Lehrer beispielsweise authentisch sein. Zumindest ist das seine Erfahrung nach vier Jahren Schuldienst: „Sobald man nicht mehr authentisch ist, hat man verloren.“
_News4teachers_ HIER GEHT ES ZU DEN ERSTEN VIER TEILEN DER PODCAST-REPORTAGE – SOWIE ZU WEITEREN FOLGEN DES NEWS4TEACHERS-PODCASTS SCHULSCHWATZ: Den Podcast finden Sie auch auf >
News4teachers-Podcast: Plötzlich Lehrer – der Sprung ins kalte > Wasser! Reporterin begleitet Seiteneinsteiger fast drei Jahre lang