Plötzlich lehrer – eine podcast-reportage über den seiteneinstieg: angekommen (nach vier jahren schuldienst) - news4teachers

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DÜSSELDORF. ENGAGIERT UND UNTERBESETZT, SO KÖNNTE MAN DIE KOLLEGIEN AN SOGENANNTEN BRENNPUNKTSCHULEN BESCHREIBEN. DENN HIER IST DER LEHRERMANGEL LAUT ERHEBUNGEN DERZEIT AM HÖCHSTEN. DESHALB


GEHT ES IN DER FÜNFTEN UND LETZTEN FOLGE DER REPORTAGEREIHE „PLÖTZLICH LEHRER“ UM DAS GROSSE THEMA CHANCENGERECHTIGKEIT UND DIE FRAGE, WAS EIGENTLICH GUTE BILDUNG AUSMACHT. AUSSERDEM


BEGLEITET NEWS4TEACHERS REDAKTEURIN LAURA MILLMANN DEN SEITENEINSTEIGER ANDRE DIEHL IN SEINER NEUEN ROLLE ALS KLASSENLEHRER. Wir treffen Andre Diehl im Frühjahr 2022 an der


Emschertal-Grundschule in Dortmund wieder. Seit dem Sommer 2021 hat er zusammen mit seiner Schulleiterin die Leitung der Klasse 1b übernommen. Obwohl Andre vor dieser neuen Aufgabe anfangs


großen Respekt hatte, hat er inzwischen das Gefühl, nun wirklich angekommen zu sein. Wir treffen ihn in der großen Pause in seiner Klasse an. Es ist zum Ritual geworden, dass er seinen


Schülerinnen und Schülern während des Frühstücks eine Geschichte vorliest. Die Kinder sitzen dabei an ihren Gruppentischen. Vorne hängt noch die klassische grüne Tafel, die Regale sind


vollgestopft mit den Sachen der Schülerinnen und Schüler und an den Wänden hängen bunte Bilder. „Der Raum war vorher einfach nur ein Gruppenraum und meine Schulleiterin und ich haben ihn


während der Sommerferien komplett neu eingerichtet“, erzählt Andre. „Und jetzt wird er nach und nach immer voller. Die Kinder haben ihn in Beschlag genommen, wir haben ihn in Beschlag


genommen. Und wenn man hier regelmäßig reinkommt, fühlt man sich schon wohl.“ Die geteilte Klassenleitung gibt Andre die Chance, langsam in seine neue Rolle hineinzuwachsen. Gleichzeitig ist


diese Konstellation mit sehr viel Abstimmungsbedarf verbunden – zumal Andre auch weiterhin an einer weiteren Schule Sport unterrichtet. „Ich bin nie die ersten beiden Stunden hier an der


Schule, sodass ich meine Schulleiterin in der Pause immer nachfrage: Wer fehlt, gibt es was Neues? Und wir texten viel, schreiben Mails hin und her. Wenn uns etwas aufgefallen ist oder etwas


schlecht gelaufen ist, es einen Streit gab, dann versuchen wir, das dem anderen zu schreiben. Damit wir immer auf dem gleichen Stand sind.“ SOZIALE UNGLEICHHEIT ALS FOLGE VON CORONA Was


Andre immer wieder auffällt: Die Corona-Pandemie und die dadurch verursachten Schulschließungen haben Spuren hinterlassen, auch an der Emschertal-Grundschule. Einige seiner


Erstklässler*innen waren so gut wie nie im Kindergarten, bevor sie eingeschult wurden. Viele brauchten daher Zeit, um sich auf die neue Situation in der Schule und vor allem die große Gruppe


einzulassen. Außerdem stellt Andre immer wieder fest, dass durch Corona in allen Klassen die sozialen Ungleichheiten zugenommen haben: „Man merkt, wo zu Hause Unterstützung geleistet werden


konnte und wo nicht. Man hat schon gesehen, die Aufgaben, die abgegeben wurden oder nicht. Ob jemand regelmäßig in der Videokonferenz war oder nicht. Die Unterschiede sind extrem geworden


und es gibt Kinder, die haben den Anschluss verloren.“ Diese Beobachtungen sind umso erschreckender, als Andre noch nicht einmal an einer sogenannten Brennpunktschule unterrichtet. Laut dem


schulscharfen Sozialindex, der in Nordrhein-Westfalen zum Schuljahr 2021 eingeführt wurde, hat die Emschertal-Grundschule einen Sozialindextyp der Stufe 3 – bei insgesamt neun Stufen. Das


Ziel des schulscharfen Sozialindex sei es, so schreibt es das NRW-Schulministerium auf seiner Webseite, Schulen mit schwierigen sozialen Ausgangslagen zu identifizieren, um diese dann


zielgenauer unterstützen zu können. Wichtig zu wissen ist, dass es bei der Einstufung nicht um die pädagogische Arbeit an den Schulen geht. Der Sozialindex betrachtet lediglich die


Zusammensetzung der Schülerschaft in Hinblick auf vier Indikatoren: die Kinder- und Jugendarmut, der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit vorwiegend nichtdeutscher Familiensprache, der


Anteil der Schülerinnen und Schüler mit eigenem Zuzug aus dem Ausland und der Anteil der Schülerinnen und Schüler mit den Förderschwerpunkten Lernen, emotionale und soziale Entwicklung sowie


Sprache. Fällt eine Schule in die Stufen sechs bis neun, gilt sie als Schule in schwieriger Lage. Das gilt derzeit für knapp 8,6 Prozent der insgesamt rund 2.700 Grundschulen in NRW. Jedoch


hat die Landesregierung bereits eine Neuberechnung für das Jahr 2024 angekündigt, wodurch absehbar mehr Schulen in die höchsten vier Stufen rutschen werden. EINE SCHULE ALS LEBENSORT Eine


Schule, die bereits jetzt als sogenannte Brennpunktschule gilt, ist die Libellen Grundschule im Dortmunder Norden. Die Schulleiterin Christian Mika kennt die Sorgen, die Andre umtreiben –


jedoch um einiges extremer: „Unser Eindruck war schon, dass die Kinder hier auch in einer Form in der Schule ankamen, sowohl nach dem ersten als auch nach dem zweiten Lockdown, wo sie


sozial, emotional eingefroren wirkten. Also dass so wenig Interaktion war, Austausch, Bewegung und auch mit Gleichaltrigen, dass sie das ganz neu lernen mussten.“ Laut Christiane Mika


müssten sich Schulen in Zukunft ganz anders und breiter aufstellen – und das nicht nur mit Blick auf Corona. „An diesem Standort heißt das, dass wir nicht einfach eine Grundschule sind,


sondern uns als Stadtteilschule verstehen. Dass wir vielfältig verknüpft sind in unterschiedlichsten Netzwerken mit allen möglichen Akteuren und für die Familien eine wichtige Anlaufstelle


sind. Bei uns sollen Familien erleben, dass Bildung ein durchgängiger Prozess ist, bei dem sie gut begleitet werden und die Kinder erfolgreich für ihr Leben lernen können“, so die


Schulleiterin. Eine Schule als Lebensort, das ist das Ziel. Das Problem: Der Lehrermangel ist an Schulen mit schwieriger sozialer Ausgangslage besonders hoch. Denn wenn Lehrerinnen und


Lehrer händeringend gesucht werden, können sich die wenigen, die es gibt, ihren Arbeitsplatz natürlich aussuchen. Und die wenigsten entscheiden sich für ein Arbeitsumfeld, das so


herausfordernd ist. Dabei bräuchte es genau hier, an den sogenannten Brennpunktschulen, die besten Lehrkräfte. Daher bekräftigt Christiane Mika eine Forderung, die es theoretisch schon lange


gibt: „Es ist so wichtig, Ungleiches eben auch ungleich zu behandeln.“ Sprich: Schulen mit größeren Herausforderungen besser zu unterstützen, ihnen mehr Mittel zur Verfügung zu stellen und


auch Arbeitszeiten von Lehrkräften je nach Standort anders zu berechnen. SCHULE REPRODUZIERT SOZIALE UNGLEICHHEITEN Als Experte für Ungleichheiten im Schulsystem beschäftigt sich der


Bildungswissenschaftler Aladin el-Mafaalani regelmäßig mit dem Thema Lehrermangel. Er bestätigt die Einschätzung von Christiane Mika, dass eine Gleichbehandlung alle Kinder nicht zielführend


ist. „Es ist natürlich schon ein großer Fortschritt historisch gewesen, dass alle gleichbehandelt werden. Aber wenn man alle gleich behandelt, dann erzeugt man zwar keine weitere


Ungleichheit mehr, aber man reproduziert die Ungleichheit, die schon da ist. Also wenn Kinder auf unterschiedlichen Wissens- und Entwicklungsständen sind und man behandelt dann alle gleich,


dann wird man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit die ungleichen Verhältnisse fortführen. Und nicht ausgleichen. Wenn man ausgleichen wollen würde, müsste man die Kinder gezielt und


systematisch ungleich behandeln. Also ungleiche Kinder ungleich behandeln, damit alle bestmögliche Entwicklungschancen haben“, erklärt el-Mafaalani. Seine Sorge ist, dass es den Lehrermangel


absehbar auch noch am Ende dieses Jahrzehnts geben wird und Lehrkräfte immer vor allem dort fehlen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Er plädiert dafür, jetzt schnell gegenzusteuern,


um eine Katastrophe zu vermeiden, und zwar mit verschiedenen Maßnahmen. Er schlägt beispielsweise vor, Rentnerinnen und Rentner in die Schulen zu holen (mit den richtigen finanziellen


Anreizen), Lehramtsstudierende einzusetzen, beispielsweise für Verwaltungstätigkeiten, mehr Seiteneinsteigerinnen und Seiteneinsteiger für den Schuldienst zu begeistern (bei gleichzeitiger


Einführung eines funktionierenden Fortbildungssystems) und – ganz wichtig – schulexterne Professionen einzubeziehen, damit gerade auch Kinder in benachteiligten Stadtteilen viele


verschiedene Erfahrungen sammeln können. Denn: „In einem guten Bildungssystem sollte alles erlebbar und erfahrbar sein, was die Welt und die Gesellschaft Positives zu bieten hat“, ist der


Bildungswissenschaftler überzeugt. WAS MACHT EINEN GUTEN LEHRER AUS? Klar ist, gute Bildung kann nur funktionieren, wenn es genug engagierte Fachkräfte gibt, die tagtäglich versuchen, jedes


Kind bestmöglich zu fördern. Und klar ist auch, es braucht weiterhin einen großen Anteil von Menschen in unserem Bildungssystem, die Lehramt studiert haben. Denn ohne grundständig


ausgebildete Lehrkräfte würde das das System Schule sowie der Seiteneinstieg gar nicht funktionieren. Aber trotzdem ist ein Studium nicht Grundvoraussetzung dafür, um letztendlich ein guter


Lehrer, eine gute Lehrerin zu sein. Zumindest nennen die Interviewpartner*innen dieser Reportage andere Fähigkeiten und Eigenschaften, die eine gute Lehrkraft mitbringen sollte. Für Andre


muss ein guter Lehrer beispielsweise authentisch sein. Zumindest ist das seine Erfahrung nach vier Jahren Schuldienst: „Sobald man nicht mehr authentisch ist, hat man verloren.“


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