Essstörung arfid: wenn menschen weder erdbeeren noch orangen essen können

feature-image

Play all audios:

Loading...

„Ich dachte, ich bin in puncto Essen einfach doof“, sagt Mara. Viele Arfid-Betroffene scheinen mäkelig zu sein. Doch die Essstörung ist mehr als nur wählerisches Verhalten, wie Mara nun


weiß. „Nein, auch keine Erdbeeren.“ Mara muss oft erklären, was sie alles nicht essen kann: Keine Orangen und nahezu kein anderes festes Obst oder Gemüse, kein kaltes gegartes Fleisch. „Vor


dem Weihnachtsessen mit der Firma, da habe ich schon Schweißausbrüche bekommen“, sagt sie. „Rund 30 Jahre habe ich gedacht, ich bin in puncto Essen einfach doof und benehme mich wie ein


Kleinkind.“  Bis sie ein Kind mit ähnlichem Essverhalten auf Instagram gesehen habe. „Dessen Mutter benannte das Verhalten ihres Kindes mit dem Wort Arfid. Da habe ich gedacht: Oh mein Gott,


das bin ja ich.“  Seit einigen Jahren ist die Krankheit bekannt: Arfid oder auch vermeidend-restriktive Ernährungsstörung. „Das ist verrückt, wenn man sein ganzes Leben damit lebt und dann


auf einmal einen Namen dafür hat“, sagt die Frau Mitte 30. Denn Arfid ist nicht einfach wählerisches Essen. „Es gibt einen Unterschied zwischen Sachen, die ich nicht mag, und Sachen, die ich


nicht essen kann“, erklärt Mara. Sie möge kein Marzipan, aber gekochten Schinken bekomme sie einfach nicht hinunter. „Das ist wie beim Dschungelcamp, wenn Menschen bestimmte Innereien nicht


essen können.“  ESSEN IST KEIN GENUSS, SONDERN BELASTUNG „Auf jeden Fall bin ich sehr erleichtert, dass ich weiß, was ich habe“, sagt Mara, die normalgewichtig ist. Sie war inzwischen beim


Arzt und überlegt, ob sie zu einem Psychotherapeuten gehen soll oder eher zum Logopäden, der insbesondere bei einer Aversion gegen bestimmte feste Lebensmittel empfohlen wird.  Empfohlener


redaktioneller Inhalt An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können


sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden. Externen Inhalt anzeigen Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit


können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im


Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können. Betroffen von Arfid sind sowohl Erwachsene als auch Kinder. Dabei könne es zum Beispiel um die Abwehr von


Nahrungsmitteln aufgrund des Geruchs, des Geschmacks, der Konsistenz oder des Aussehens gehen, sagt Ricarda Schmidt von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und


Psychotherapie der Universität Leipzig. Viele der Kinder oder Erwachsenen empfänden keinen Hunger, hätten Ängste vor dem Essen oder wenig Appetit. „Essen ist kein Genuss, sondern eine


Belastung für sie.“ WENN KINDER KEINEN GEBURTSTAGSKUCHEN MÖGEN Manchmal sei die Abwehr gegen Essen so stark, dass Kinder Mangelerscheinungen bekommen oder abnehmen, sagt Schmidt. „Diese


Kinder essen so wenig oder eingeschränkt, dass sie körperliche und psychosoziale Beeinträchtigungen entwickeln. Sie vermeiden beispielsweise Kindergeburtstage oder Schulausflüge wegen des


Essens.“ Es sei mehr als allgemeine Mäkeligkeit oder wählerisches Essen, was viele Kinder im Rahmen ihrer Entwicklung zeigten und was meistens vergehe.  IN DEN USA IST ARFID IM


DIAGNOSEKATALOG, IN DEUTSCHLAND NICHT Arfid (Avoidant/Restrictive Food Intake Disorder) wurde erstmals 2013 in einem Diagnoseleitfaden der USA als eigenständige Krankheit anerkannt. Die


Essstörung wurde zudem in die Internationale Klassifikation der Erkrankungen der Weltgesundheitsorganisation von 2022 (ICD-11) aufgenommen, die in Deutschland aber noch nicht genutzt wird.


Ärzte rechnen den Termin unter sonstige Essstörungen ab. Die Zahl der Betroffenen ist unbekannt. Eine konkrete Therapie gibt es nicht, aber einen Selbsthilfeverein mit Sitz in Münster.  Bei


erkrankten Jugendlichen werde in Deutschland oft Magersucht angenommen, sagt Andrea Hartmann Firnkorn, Leiterin der Arbeitsgruppe Klinische Psychologie und Psychotherapie des Kindes- und


Jugendalters der Universität Konstanz. „Doch Personen mit Arfid schränken ihr Essen nicht ein, weil sie abnehmen möchten. Sie essen teilweise auch beispielsweise Pommes, Nudeln oder


Schokobrötchen.“ Die Betroffenen könnten unter-, normal- oder übergewichtig sein, seien aber aufgrund der einseitigen Ernährung oft zugleich mangelernährt. EINE DER MÖGLICHEN URSACHEN: DIE


GENE  Über die Ursachen von Arfid weiß man bislang wenig. Eine genetische Veranlagung könnte gerade bei Betroffenen, die empfindlich gegenüber Gerüchen, Textur oder Geschmacksrichtungen


seien oder einen Ekel vor vielen Speisen hätten, eine Rolle spielen, sagt Schmidt.  Angst vor dem Essen oder andere Arfid-Symptome könnten auch durch frühe traumatische Erfahrungen ausgelöst


werden: Wenn ein Kind sich stark verschluckt hat, eine allergische Reaktion erlebt hat, wenn es früh intubiert werden musste oder Erkrankungen mit Schluckbeschwerden hatte.  Eine Analyse


von 77 Studien gibt Hinweise auf mögliche Therapieansätze: Obwohl es recht kleine Studien ohne Langzeitbeobachtung seien, zeigten sie Ansätze, die erforscht werden sollten, schreibt ein Team


um Laura Bourne vom University College London im Journal „Psychiatry Research“. Darunter seien die familienbasierte Therapie, die kognitive Verhaltenstherapie und zum Teil eine ergänzende


Gabe von Psychopharmaka. Je nach Hauptproblem und Schweregrad müsse die Therapie individuell angepasst werden. ARFID KANN SEHR FRÜH BEGINNEN „Arfid ist für die gesamte Familie sehr


anstrengend“, sagt Schmidt. „Oft zeigen sich schon früh Auffälligkeiten beim Essen, zum Beispiel beim Stillen oder wenn man Beikost einführt.“  Eltern sollten zum Kinderarzt gehen, um die


körperlichen Folgen abschätzen zu lassen. Er könne auch abklären, ob Magen-Darm-Probleme oder eine Nahrungsmittelallergie vorliegen. „Man muss davon ausgehen, dass der Arzt Arfid nicht kennt


und es als Mäkeligkeit abtut. Mäkeligkeit geht jedoch vorbei, Arfid nicht.“ Doch es gibt auch praktische Ansätze: Wichtig sei ein entspanntes Klima am Esstisch, auch wenn es schwer sein


könne, betont Schmidt. „Die Eltern sollten Freude am Essen vermitteln und abgelehntes Essen immer wieder in Schalen auf dem Tisch anbieten, so dass sich jeder davon nehmen kann.“  Mindestens


zehn Mal sollte ein neues Nahrungsmittel probiert werden, damit man sich damit anfreundet, sagt Schmidt. Andererseits helfe es nichts, wenn Druck ausgeübt werde, Gemüse, Obst, Milchprodukte


oder Fleisch und Fisch zu essen. Viele Menschen mit Arfid möchten ja etwas essen. „Manche Kinder möchten gerne Kartoffelbrei essen, schaffen es aber nicht, diesen Ekel zu überwinden.“ 


NICHT GLEICH TOMATENSOSSE AUF DIE SPAGHETTI SCHÜTTEN Die Psychologinnen Hartmann Firnkorn und Julia Engelkamp haben an der Universität Konstanz eine Online-Therapie mit


Videotherapiesitzungen und Selbstlernmodulen gestartet, bei der Familien individuell betreut werden. „Es ist wichtig, dass jemand Neutrales reinkommt, weil das Thema Essen häufig zum


Kriegsschauplatz geworden ist“, sagt Hartmann Firnkorn.  „Wir werden Arfid nicht in zwölf Wochen zum Verschwinden bringen, für andere Essstörungen wie die Magersucht oder Bulimie ist auch


häufig eine Langzeittherapie um die 60 Sitzungen notwendig“, meint die Forscherin. „Wir wollen aber Werkzeuge in die Hand geben, mit denen die Familie weiterarbeiten kann. Wenn Kinder


aktuell nur drei bis vier Nahrungsmittel essen, dann dauert es auch über die Therapie hinaus an, zu einem ausgewogenen Ernährungsverhalten mit genügend verschiedenen Nahrungsmitteln zu


gelangen.“  Wichtig sei, in kleinen Schritten vorzugehen: „Von Spaghetti vielleicht erstmal zu einer andern Nudelform oder Marke gehen und nicht gleich Tomatensoße hinzuzufügen“, meint


Hartmann Firnkorn. Bedeutend seien Erfolgserlebnisse. „Das Kind soll merken, ich kann etwas anderes essen.“ MARA KANN NUN AUCH GETROCKNETE TOMATEN UND OLIVEN ESSEN Auch Maras Speiseplan ist


mit der Zeit größer geworden. „Seit fünf Jahren kann ich getrocknete Tomaten und Oliven essen.“ Kürbis- und Tomatensuppe esse sie schon lange, wenn alles ganz fein püriert sei - und sie


trinke auch Orangensaft ohne Fruchtfleisch. Beim Weihnachtsessen mit der Firma habe sie schließlich auch noch etwas gefunden: Humus mit pürierter Roter Beete.  Sie achte darauf, Arfid nicht


auf ihr eigenes Kind zu übertragen. Es bekomme keinen Brei, sondern weiche Stücke Nahrung, die es selbst greifen und essen könne. Bei der inzwischen verbreiteten Methode namens Baby led


weaning (vom Baby bestimmte Entwöhnung von der Muttermilch) sucht sich der Sprössling etwas aus dem Angebot aus. Mara: „Man bietet etwas an, und das Kind entscheidet selbst darüber, was es


isst. Meine Tochter isst bisher alles mit großem Appetit. Ich hoffe, das bleibt so!“ © dpa-infocom, dpa:250519-930-561721/1 _Das ist eine Nachricht direkt aus dem dpa-Newskanal._