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Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde. Hass, Hetze, Herabsetzung gehören zum Alltag vieler Menschen, die durch ihre Arbeit in der Politik, im Journalismus oder in der Justiz in der
Öffentlichkeit stehen. Sie müssen Diffamierungen aushalten, die oft unzumutbar sind. Die Nachrichten, die ab dem 2. August 2018 in Deutschland kursierten und den Weg in verschiedene
elektronische Postfächer fanden, waren nicht bloß widerwärtig; sie waren Furcht einflößend. Ihr Verfasser nannte Namen und Geburtstage von Verwandten, private Adressen und persönliche Daten
der Empfängerinnen und Empfänger. Dies machte die Drohungen konkreter, realer, beängstigender. Sie endeten mit dem menschenverachtenden Dreiklang: »Heil Hitler! NSU 2.0 Der Führer.« Der
Mann, der die Mails verschickt haben soll, sitzt in Untersuchungshaft. An diesem Mittwochmorgen betritt er gefesselt den Saal 165 im Landgericht Frankfurt am Main: Alexander M., 54 Jahre
alt, ein groß gewachsener Mann in grauer Jacke mit neonfarbenem Einsatz. Als sich seine Verteidiger abwenden, zeigt er in Richtung Staatsanwaltschaft den Mittelfinger. Als die Fotografen ihn
ablichten, legt er nach: Er hält zwei Mittelfinger in die Luft. »KEINE PRIVATEN DATEN« Alexander M. tritt auch sonst selbstbewusst auf. Er weigert sich, seine letzte Wohnanschrift zu
nennen. Warum, fragt die Vorsitzende Richterin Corinna Distler. »Ich gebe keine privaten Daten an«, sagt M., das gehe die Presse nichts an. »Die Adresse steht ja in der Akte drinnen.« Er
spricht mit Berliner Akzent. Man ahnt schon jetzt, welches Kaliber da auf der Anklagebank sitzt: Ein unberechenbarer Mandant, den man nicht leicht unter Kontrolle halten kann. An seiner
Seite steht Pflichtverteidiger Marcus Steffel, ein erfahrener Anwalt, er hat seinen Kollegen Ulrich Baumann dazugeholt. Noch wirken die beiden entspannt. Was aber, wenn M. sich zu den
Vorwürfen selbst äußern will? Innerhalb von knapp drei Jahren, zuletzt am 21. März 2021, soll er 116-mal »NSU 2.0«-Schreiben verschickt haben, voller rassistischer, vulgärer Beleidigungen
und mit hohem Gewaltpotenzial. Vorrangig an Frauen aus der Politik, der Justiz, dem Journalismus, aber auch an Hessens Ministerpräsidenten Volker Bouffier und die Satiriker Jan Böhmermann
und Carolin Kebekus. 162 Minuten lang verlesen Oberstaatsanwalt Sinan Akdogan und seine Kollegin Patricia Neudeck die Anklage. Sie werfen M. unter anderem Bedrohung, Beleidigung,
Volksverhetzung vor. Alexander M. folgt den Ausführungen größtenteils zurückgelehnt, die Arme verschränkt. Er hat eine Brille aufgesetzt. Nach 81 Minuten bittet er selbst, ohne Rücksprache
mit seinen Anwälten, um eine kurze Unterbrechung, er müsse zur Toilette. Ihm gegenüber sitzen die Rechtsanwältinnen Antonia von der Behrens und Kristin Pietrzyk. Sie vertreten Empfängerinnen
der bedrohenden Mails und Faxschreiben. Unter ihnen Seda Başay-Yıldız, eine Frankfurter Rechtsanwältin, engagiert gegen Rechtsextremismus. Im NSU-Prozess vertrat sie die Familie des ersten
Opfers Enver Simsek. Başay-Yıldız bekam die erste angeklagte Nachricht drei Wochen nach dem Urteil im NSU-Prozess, am 2. August 2018. Der Verfasser kannte den Namen des Kindes und die
Wohnanschrift der Familie und bedrohte die Anwältin übelst: »Verpiss dich lieber, solange du hier noch lebend rauskommst, du Schwein!« Schwer vorstellbar, aber seine Aggressivität steigerte
sich noch. Zweieinhalb Jahre später, in einem Drohschreiben vom 20. Februar 2021, verwies der Autor auf einen Aufruf im Internet, wonach die Anwältin öffentlich getötet werden soll. Der
Verfasser bedrohte die Adressaten »im Namen des deutschen Volkes«, kündigte Sprengsätze an und nannte sich »Obersturmbannführer«. Er jonglierte mit behördensprachlichen Formulierungen,
wirkte versiert und trotz Vulgarität eloquent. ZUGEMÜLLTE EINZIMMERWOHNUNG Als das SEK am 3. Mai vergangenen Jahres Alexander M.s Einzimmerwohnung in Berlin stürmte, trafen die Ermittler auf
einen arbeitslosen, vorbestraften, alleinstehenden Mann, ohne viele soziale Kontakte, in einer zugemüllten Bude, die Fenster zugehängt. In einem Bücherregal stand Fachliteratur zu gezielter
Manipulation, Täuschung und Rhetorik. M. war im Besitz einer Schusswaffe. Er kam in Ost-Berlin als Sohn einer Lehrerin zur Welt, arbeitete als EDV-Facharbeiter bei der Ost-Berliner Bank.
Die Wende scheint ein Einschnitt in seinem Leben gewesen zu sein, seither soll er von Sozialleistungen leben. Sein Vater starb noch zu DDR-Zeiten. Im Zweiten Weltkrieg war der Vater Mitglied
des Totenkopfverbands »Thüringen« der Waffen-SS, stationiert auf dem Gelände des Konzentrationslagers Buchenwald. Prägte das Alexander M.? Er rief bereits 1992 bei einer Bank an, gab sich
als Polizist aus und fragte nach persönlichen Daten seiner früheren Englischlehrerin. Zwei Jahre später wurde er wegen Amtsanmaßung verurteilt. Wenn Alexander M. der Verfasser der Schreiben
ist: Woher hatte er all die privaten Details? Die Staatsanwaltschaft ist davon überzeugt, dass M. sich die Daten allein besorgte; dass er sich als Polizist ausgab und telefonisch
Gesprächspartner bei Polizeidienststellen und Einwohnermeldeämtern austrickste, um an vertrauliche Daten zu kommen. Beweise dafür gibt es keine. Für die Ermittler ist der Fall eindeutig:
Alexander M. ist ein Einzeltäter. Die Betroffenen haben Zweifel. »Meiner Ansicht nach wurde nicht mit der notwendigen Akribie ausermittelt«, sagt die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina
Renner dem SPIEGEL. Auch sie bekam »NSU 2.0«-Drohmails. Sobald es darum gehe, dass auch Polizeibeamte und Beamtinnen von Ermittlungen betroffen seien, entstünden Lücken, die nur »mit
mangelndem Aufklärungsinteresse« zu erklären seien. »Fakt ist, dass es hessische Polizeibeamt:innen gegeben hat, die sich illegal Zugang zu persönlichen Daten verschafft haben, und Fakt ist
auch, dass es Drohnachrichten via Fax gegeben hat, die aus hessischen Polizeirevieren verschickt wurden«, so Renner. 17 ABRUFE AN EINEM TAG Gemeinsam mit Seda Başay-Yıldız, ldil Baydar,
Anne Helm, Janine Wissler und Hengameh Yaghoobifarah erklärt Renner, es gebe Hinweise auf »mindestens gezielte Datenweitergabe aus Polizeikreisen«. Ihrer Ansicht nach muss der Verfasser
Kontakt zu diesen Kreisen gehabt haben. Die Daten von Başay-Yıldız, Wissler und Baydar seien – aus nicht dienstlichen Anlässen – über dienstliche Zugänge auf Polizeicomputern in
Frankfurt am Main und Wiesbaden abgerufen worden. Weitere, in Drohschreiben verwandte Daten stammten aus polizeilichen Abfragen in Hamburg und Berlin. Am 2. August 2018, als die Nachricht an
Başay-Yıldız ging, seien ihre Daten und die ihrer Familie 17-mal in drei verschiedenen polizeilichen Datenbanken abgerufen worden. Tatsächlich stießen Ermittler auf eine rechte Chatgruppe
im Frankfurter 1. Polizeirevier, es kam zu Hausdurchsuchungen, Disziplinarverfahren und internen Ermittlungen. Zwei Verfahren gegen eine Polizistin und einen Beamten des 1. Reviers sind noch
nicht abgeschlossen. »ICH BIN HOCH MOTIVIERT« In diesem Verfahren muss geklärt werden, ob M. diese Nachrichten schrieb und abschickte. Die Nebenkläger werden besonders darauf pochen, ebenso
herauszufinden: Wie kam er an die aus Polizeicomputern stammenden Details? Waren Angehörige der Polizei involviert? Gab es Verbindungen zwischen M. und Polizeikräften im Darknet? Und: Wie
gefährlich ist Alexander M.? Plante er, seine Drohungen umzusetzen? Es stehe ihm frei, sich zu äußern, sagt Richterin Distler. Ohne Rücksicht auf seine Verteidiger drückt Alexander M. den
Knopf an seinem Mikrofon: »Es kommt eine umfangreiche Einlassung von mir. Gerne jetzt schon, weil ich das hier nicht unkommentiert lassen möchte.« Anwalt Baumann interveniert und schlägt
eine Pause vor. M. bleibt stur, er möchte jetzt anfangen. Die Richterin fällt ihm ins Wort: »Wann Sie Ihre Einlassung vortragen, entscheide ich!« M. schiebt nach: »Ich bin aber hoch
motiviert, jetzt etwas zur Sache zu sagen.« Das letzte Wort hat die Richterin. M. darf sich am morgigen Donnerstag erklären.