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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? In
Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für die Lösung globaler
Probleme. Alle Artikel Bevor das Interview beginnt, direkt nach der Begrüßung, und obwohl wir über etwas ganz anderes reden wollen, sprechen wir über Corona. Corona ist das neue Wetter des
Smalltalks geworden. Sibel Kekilli sagt, als Schauspielerin kenne sie die Phasen, in denen man zu Hause sitzt und auf Aufträge wartet und nichts tut. In denen das Sozialleben an einem
vorbeizieht, weil man knapp bei Kasse ist. Oder eben, wie in den vergangenen Wochen, nicht raussollte. Dass man am Anfang des Zuhauseseins denkt, wie viele Bücher man am Ende gelesen, wie
viele Sprachen man gelernt haben wird. "Aber das merken jetzt auch Leute, die keine Schauspieler sind: So einfach ist das mit der Motivation nicht, wenn man die ganze Zeit zu Hause
sitzt", sagt Kekilli und durchs Telefon kommt ein gewaltiges Lachen. "Die ersten drei Tage liest man, und dann guckt man aus dem Fenster." Kekilli, 39 Jahre alt, gilt als eine
der profiliertesten deutschen Schauspielerinnen ihrer Generation. Ihr Debüt, der Film "Gegen die Wand" im Jahr 2004, machte sie berühmt. Von 2010 bis 2017 spielte sie die
Ermittlerin Sarah Brandt im Kieler "Tatort", in der HBO-Serie "Game of Thrones" die Rolle der Shae. Kekilli setzt sich seit mehr als 15 Jahren für die Rechte von Frauen
und Mädchen ein, dafür erhielt sie das Bundesverdienstkreuz. Vor Kurzem ist Kekilli von einer Reise aus Brasilien zurückgekehrt. Vergangenes Jahr war sie schon einmal dort, gemeinsam mit
Außenminister Heiko Maas (SPD) gründete sie 2019 Unidas , ein gemeinsames Netzwerk Deutschlands, Lateinamerikas und der Karibik, das Frauenrechte weltweit fördern will. Diesmal ist Kekilli
auf eigene Initiative nach Brasilien gereist, sie baute ein Frauenzentrum in Salvador de Bahia auf. Am Telefon erzählt sie, wie es dazu kam. SPIEGEL: Frau Kekilli, Sie waren sieben Wochen in
Brasilien. Was haben Sie dort gemacht? KEKILLI: Ich wollte das Frauennetzwerk Unidas, das wir gemeinsam mit Heiko Maas gegründet haben, mit Leben füllen - und zwar dort, wo alles begann, in
Salvador de Bahia. Von Anfang an hatte ich die Vision: unbedingt ein Haus zu gründen, wo Frauen sich treffen. Es stellte sich raus, dass die Stadt schon lange ein Kulturhaus für Frauen
geplant hatte, es aber aufgrund der finanziellen Situation nur für zwei Monate hätte öffnen können. Ich habe mir dann sofort die Baustelle angesehen, zwei Stockwerke in der Altstadt – und
dann sind wir direkt eingestiegen ins Projekt. SPIEGEL: Die Räumlichkeiten wurden noch während Ihrer Zeit in Brasilien fertiggestellt. Nehmen Sie uns mit dorthin. Wie können wir uns das Haus
vorstellen? KEKILLI: Die Casa Respeita as Mina ist ein buntes Haus geworden, in der sich alle Frauen, unabhängig von Hautfarbe oder sozialem Status, in einem geschützten Raum treffen und
austauschen können. Es gibt etwa eine kleine Bibliothek samt Leseecke, einen Garten, den man auch für Kulturveranstaltungen nutzen kann und im oberen Stock Räume, die für verschiedene
Vorträge und Workshops genutzt werden können. Zudem habe ich angeregt, einen Flohmarkt für Frauen zu veranstalten. Vielleicht schaffen wir es auch, einen Podcast auf die Beine zu stellen.
Mein wichtigstes Anliegen jedoch wäre ein Mentoring-Programm, um den Frauen Perspektiven im Arbeitsleben zu ermöglichen. Das alles erfolgt in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und dem
Goethe-Institut. SPIEGEL: Die Zahl der Frauenmorde steigt in Brasilien ständig. 3200 Femizide hat das Fórum Brasileiro de Seguranca Pública zwischen 2016 und 2018 erfasst. Dazu kommt die
frauenfeindliche Politik des Präsidenten Jair Bolsonaro. Was haben die Frauen Ihnen erzählt? KEKILLI: Die Frauen fühlen sich oft allein gelassen. Aus den Gesprächen habe ich aber vor allem
gelernt, dass eine Frau dort nie sicher ist. Zu keiner Tageszeit, nirgends. Weder vor dem Ehemann, noch vor einem Arbeitskollegen, noch vor einem Fremden. Beinahe jede Frau – in armen wie in
besser gestellten Schichten – hat dort einmal in ihrem Leben Gewalt erlebt; sexuelle oder eine andere Form von körperlicher oder psychischer Gewalt. Das hat mich geschockt. SPIEGEL: Wo
finden Frauen Hilfe? KEKILLI: Das ist in der Tat schwierig. Die Regierung Bolsonaro hat leider viele Hilfen und Projekte für Frauen und NGOs gestoppt. Neben dem neuen Frauenhaus ist das
Frauenkrankenhaus Hospital da Mulher eine wichtige Anlaufstelle. Es bietet psychologische und rechtliche Unterstützung an, etwa bei Gewalttaten gegenüber Frauen. Vor offiziellen Stellen wie
der Polizei haben die Menschen eher Angst, sie tritt sehr autoritär auf - und ahndet Vergehen nur in den seltensten Fällen. Zum einen, weil die Anzeigen der Frauen aus Scham oder Schock
oftmals sehr zeitverzögert oder gar nicht erfolgen. Nicht selten finden Gewalttaten in den ärmeren Vierteln statt, wo die Polizei kein gutes Standing hat. Wenn eine Frau dann doch eine
Anzeige stellt, wird sie oft nur zu einer Nummer in der Statistik, das war's. SPIEGEL: Gab es eine Begegnung, die Sie besonders mitgenommen hat? KEKILLI: Alle Geschichten waren sehr
berührend. Eine Frau etwa arbeitete im Krankenhaus und wurde von einem Kollegen in einer Raucherecke am helllichten Tag vergewaltigt. Er hat sie anschließend einfach liegen lassen. Sie hat
geblutet, eingenässt und war so unter Schock, dass sie ihre Schicht anschließend auch noch zu Ende gebracht hat. Erst am nächsten Tag ist ihr bewusst geworden, dass sie vergewaltigt wurde.
Diese hat sie aber nie angezeigt. Die Scham und die Angst, von der eigenen Familie stigmatisiert zu werden, ist in solchen Kulturkreisen viel zu groß. SPIEGEL: Können Sie das erklären?
KEKILLI: Meist wird den Frauen die Schuld an dem Verbrechen gegeben. Man sagt, sie sollen sich schämen für das, was passiert ist. Ich selbst kenne das aus der türkischen Kultur, dass meist
die Frau beschuldigt wird, wenn ihr Gewalt angetan wurde. In patriarchalen Gesellschaften wird alles verdreht. Egal was passiert – die Frau ist schuld. Es ist schwer, das Denkmuster aus den
Köpfen zu kriegen. Viele der Frauen in Brasilien hatten Angst, von ihren Familien verstoßen zu werden. SPIEGEL: Sie selbst sind in einem konservativen Elternhaus aufgewachsen und haben zu
Ihren Eltern keinen Kontakt mehr. Welchen Preis hat die Freiheit? KEKILLI: Diese Freiheit kann lebensbedrohlich sein. In patriarchalen Kulturen bedeutet das nämlich einen Gesichts-, Ehr- und
Kontrollverlust für den Mann. Selbst wenn er damit klarkommen sollte, ist der gesellschaftliche Druck so groß, dass er sich dem nur schwer entziehen kann. SPIEGEL: Sie haben zehn Frauen in
einem Fotoprojekt sichtbar gemacht, denen Gewalt angetan wurde. Man sieht die Frauen im Profil, im Wechsel zwischen Licht und Schatten. Was ist die Idee dahinter? KEKILLI: Viele Frauen haben
gesagt: Es kostet mich Überwindung, mich fotografieren zu lassen. Ich will es aber trotzdem machen. Ich habe zwar die Vergewaltigung nicht angezeigt, doch das Foto und meine Geschichte dazu
sind meine Art der Genugtuung. Deshalb heißt das Projekt Superação, "Überwinden". Die Frauen treten aus dem Schatten. Viele haben gesagt, dass sie keine Opfer sind, dass sie ihre
Geschichte teilen wollen. Es geht darum, anderen Frauen zu zeigen: Da gibt es eine, der geht es wie mir. Ich muss mich nicht schämen. Ich muss mich nicht verstecken. Ich bin nicht schuld.
Und gleichzeitig ist es auch eine Anspielung auf das deutsche Wort Dunkelziffer. SPIEGEL: Sie haben mit den porträtierten Frauen lange Gespräche geführt. Warum war Ihnen das wichtig?
KEKILLI: Weil ich ihre Geschichten hören wollte. Ich wollte eine persönliche Ebene schaffen, bevor sie fotografiert werden sollten. Sie sollten das Gefühl bekommen, dass ich wirklich an
ihnen interessiert bin und mir Zeit für sie nehme. Daher habe ich auch allen selbst überlassen, wie sehr sie sich mir gegenüber öffnen wollen. Ich habe sie entscheiden lassen, ob ich Fragen
stellen oder nur zuhören soll. Denn die meisten Frauen hatten am Anfang Angst davor, ihr Gesicht zu zeigen. Am Ende war ich dankbar, dass jede von ihnen mit mir ihr persönliches Schicksal
geteilt hat. SPIEGEL: Erzählen Sie uns davon. KEKILLI: Eine der Frauen wurde nach ihrer Abendschicht kurz vor ihrer Wohnung von einem Fremden vergewaltigt. Sie weiß nicht, wie er aussieht,
wie er heißt, man hat diesen Mann nie erwischt. Sie hat dann vier oder fünf Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. Als ich sie getroffen habe, wirkte sie am Anfang wie eine normale junge
Frau, erst im Gespräch habe ich gemerkt, wie gebrochen sie ist. Sie lebt nur für ihren Sohn, sagt sie. Und ihre eigene Mutter wirft ihr vor, warum sie sich nicht endlich aufrafft. Eine
andere erzählte mir: Ich hatte Angst, dass mein Freund von der Vergewaltigung erfährt, ich hatte Angst, dass er mich tötet. Es ist schwer erträglich, diese Geschichten zu hören. SPIEGEL: Im
vergangenen Jahr haben sich Frauen weltweit Gehör verschafft, auch in Lateinamerika gingen sie für ihre Rechte auf die Straßen. Durch die Coronakrise ist es ruhiger geworden um die Proteste.
Bremst das Virus die Frauenbewegungen aus? KEKILLI: Ich befürchte, dass das Thema aus dem Blick gerät. In der Coronakrise zählen andere Dinge, wie die akute medizinische Versorgung.
Gleichzeitig wird häusliche Gewalt im Lockdown zum Problem, weil aggressive Männer, Brüder, Söhne nun rund um die Uhr zu Hause sind. Die Gewalt richtet sich gegen die schwächsten Glieder in
der Kette, Frauen und Kinder. Aber ich mache mir auch außerhalb von Corona Sorgen um die Frauenrechte: Wenn ich zum Beispiel sehe, wie am Weltfrauentag Frauen in der Türkei von der Polizei
niedergeschlagen werden, nur weil sie friedlich demonstrieren und sich zeigen? Das macht mich wütend. Da fehlen mir die Worte. SPIEGEL: Wovor haben die Leute Angst? KEKILLI: Vor einer
selbstbewussten, starken Frau. Eigentlich unterliegen die Menschen in den patriarchalen Kulturkreisen dem Druck, der von außen auf sie ausgeübt wird. Der Gesichtsverlust des Mannes muss um
jeden Preis verhindert werden, was dazu führt, dass Männer Frauen mit aller Macht klein halten wollen und über ihr Leben entscheiden. DIESER BEITRAG GEHÖRT ZUM PROJEKT GLOBALE GESELLSCHAFT
Unter dem Titel »Globale Gesellschaft« berichten Reporterinnen und Reporter aus ASIEN, AFRIKA, LATEINAMERIKA UND EUROPA über Ungerechtigkeiten in einer globalisierten Welt,
gesellschaftspolitische Herausforderungen und nachhaltige Entwicklung. Die Reportagen, Analysen, Fotostrecken, Videos und Podcasts erscheinen in einer eigenen Sektion im Auslandsressort des
SPIEGEL. Das Projekt ist langfristig angelegt und wird von der Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt. Eine ausführliche FAQ mit Fragen und Antworten zum Projekt finden Sie
hier. Die Bill & Melinda Gates Foundation (BMGF) unterstützt das Projekt seit 2019 für zunächst drei Jahre mit einer Gesamtsumme von rund 2,3 Millionen Euro – rund 760.000 Euro pro Jahr.
2021 wurde das Projekt zu gleichen Konditionen um knapp dreieinhalb Jahre bis Frühjahr 2025 verlängert. Ja. Die redaktionellen Inhalte entstehen ohne Einfluss durch die Gates-Stiftung. Ja.
Große europäische Medien wie »The Guardian« und »El País« haben mit »Global Development« beziehungsweise »Planeta Futuro« ähnliche Sektionen auf ihren Nachrichtenseiten mit Unterstützung der
Gates-Stiftung aufgebaut. Der SPIEGEL hat in den vergangenen Jahren bereits zwei Projekte mit dem European Journalism Centre (EJC) und der Unterstützung der Bill & Melinda Gates
Foundation umgesetzt: die »Expedition ÜberMorgen « über globale Nachhaltigkeitsziele sowie das journalistische Flüchtlingsprojekt »The New Arrivals «, in deren Rahmen mehrere preisgekrönte
Multimediareportagen zu den Themen Migration und Flucht entstanden sind. Die Stücke sind beim SPIEGEL zu finden auf der Themenseite Globale Gesellschaft .